Ein Tunnel unter Hamburg

Ilka Flegel

HERA-Baugrube

Der HERA-Speicherring bei DESY in Hamburg ist weltweit die einzige Beschleunigeranlage dieser Größe, die mitten in einer Großstadt betrieben wird. Drei Jahre und drei Monate brauchte die „Arbeitsgemeinschaft HERA“, um das ungewöhnliche Bauvorhaben zu bewältigen.

Ein 6,3 Kilometer langer unterirdischer Tunnel, vier 25 Meter tiefe Experimentierhallen sowie zwei Verbindungstunnel zu den bestehenden Beschleunigeranlagen auf dem DESY-Gelände: Sechseinhalb Jahre nach dem ersten Spatenstich lud DESY im November 1990 zur symbolischen Inbetriebnahme: Die Hadron-Elektron-Ring-Anlage HERA war im vorgesehenen Zeit- und Kostenrahmen fertig gestellt worden.

Blick in einen mit Betonelementen verschalten Tunnel, in den ein paar Schienen sowie verschiedene Rohrleitungen und Kabel führen. Im Tunnel ist eine beleuchtete Baumaschine zu erkennen.

Der HERA-Tunnel im Bau

Begonnen hat alles neben der Bahrenfelder Trabrennbahn, auf einem Sandplatz hinter den Ställen der Rennpferde. Heute erkennt man dort nur noch ein von Bäumen umgebenes Betriebsgebäude. Darunter verbirgt sich ein acht Stockwerke tiefer, von unterirdischen Büroräumen umgebener Schacht, der sich unten zu einer stattlichen Halle ausweitet: 25 mal 43 Meter misst die „HERA-Halle Süd“, in der heute der Teilchendetektor ZEUS aufgebaut ist. Vier dieser unterirdischen Hallen galt es rund um den Tunnel auszuschachten – ein gewaltiges Unterfangen, denn die Hallen wurden nach Absenkung des Grundwassers in offener Bauweise erstellt. Der Tunnel selbst wurde dagegen gleich unterirdisch gebohrt. Von der Halle Süd ausgehend, fraß sich die eigens für diesen Zweck konstruierte Schildvortriebsmaschine HERAKLES in 10 bis 25 Meter Tiefe durch den Hamburger Untergrund: sechs Meter im Durchmesser, etwa genauso lang, ein riesiger Stahlbohrer, wie man ihn sonst für den Bau von Eisenbahn- und U-Bahn-Tunneln verwendet.

Am Kopf der Bohrmaschine kratzt ein großes Schneidrad Erdreich und Steine ab und vermischt sie mit Tonschlamm, der den vorderen Teil der Maschine unter Druck füllt. Dieses Gemisch wird durch den schon gebohrten Teil des Tunnels an die Erdoberfläche gepumpt, wo Sand und Steine wieder entfernt werden. Diese Art der Schildvortriebsmaschine hat den Vorteil, dass der Druck vor dem Schild liegt, wo sich Menschen nur ausnahmsweise aufhalten müssen. Ansonsten konnten die Tunnelbauer ohne Druckkammer arbeiten, obwohl die Tunnelröhre zur Hälfte im Grundwasser verläuft. Direkt hinter der Bohrmaschine wurde der Tunnel mit vorgefertigten, mit dicken Gummidichtungen versehenen Betonsegmenten – sogenannten Tübbings – ausgekleidet, die fest aneinander gepresst wurden, so dass das Grundwasser auch hier keine Chance hatte. Das Ganze ging nicht ohne dumpfes Gerumpel vonstatten, ansonsten hatten die Anwohner jedoch keine Beeinträchtigungen zu beklagen. Lediglich eine klemmende Tür musste korrigiert werden.

Drei Männer mit Bauhelmen stehen im circa fünf Meter hohen Schneidrad einer zylinderförmigen Tunnelbohrmaschine.

Das Schneidrad der Tunnelbohrmaschine HERAKLES

Ohne Gefahr für Haus und Hof bahnte sich HERAKLES unter Wohngebieten, Gewerbeflächen, Straßen und Grünanlagen seinen Weg. Genau 28 Monate nach ihrem Start durchbrach die lasergesteuerte Schildvortriebsmaschine am 19. August 1987 die Wand zur HERA-Halle Süd und schloss damit den Kreis. Nur zwei Zentimeter war sie von ihrem Sollpunkt entfernt – zehn hätten es maximal sein dürfen. 180.000 Kubikmeter Erdreich hatte sie auf ihrem Weg unter der Bahrenfelder Trabrennbahn, diversen Wohn- und Gewerbegebiete sowie dem Hamburger Volkspark beiseite geschafft.

Kaum hatte HERAKLES den ersten Tunnelabschnitt zwischen den HERA-Hallen Süd und West fertig gebohrt, rückten die Installationstrupps an. Kabelpritschen, Strom- und Wasserleitungen, Licht und Lüftung – zunächst galt es, die kahle Tunnelröhre mit der notwendigen Infrastruktur zu versehen. „In dem Protokoll eines ersten Vorgesprächs zur Terminfestlegung der HERA-Montage hieß es, die Ausführung werde mir übertragen“, erinnert sich Hannelore Grabe-Çelik, die zu der Zeit in der Gruppe „Experimente- und Beschleunigeraufbau“ tätig war. „Zum Glück habe ich damals nicht gewusst, was dieser einfache Satz bedeutet!“ Gitterroste (24.800 Stück), Ankerschienen (10.000 Stück), kilometerweise Kabel und Rohre, Verteilerkästen, Telefone, Lautsprecher, Not-Aus-Anlagen und Magnethalterungen galt es zu montieren, Stromschienen zu verschweißen, Magnete, Module und Beschleunigungsresonatoren an Ort und Stelle zu transportieren und anzuschließen, Hohlleiter zu montieren, Abschirmsteine zu platzieren. Mit ihren Mannen folgte Frau Grabe-Çelik HERAKLES auf dem Fuß. Lange bevor die Bohrarbeiten fertig waren, standen schon die ersten Magnete für den Elektronenbeschleuniger bereit. Als HERAKLES im August 1987 an seinen Ausgangspunkt zurückkehrte, war beinahe die Hälfte des Elektronenrings fertig gestellt. Ein Jahr später konnte er in Betrieb genommen werden.

Luftaufnahme einer tiefen Baugrube neben der Bahrenfelder Trabrennbahn in Hamburg

Die Baugrube der HERA-Halle Süd

Dann begann der nächste schwierige Teil – der Aufbau des Protonenbeschleunigers, der mit seinen neuen supraleitenden Magneten und der aufwendigen Helium-Kühlung oberhalb des Elektronenrings installiert werden musste. Insgesamt etwa 650 supraleitende Magnete kamen von den Herstellerfirmen, blieben im Durchschnitt hundert Stunden in der Testhalle bei DESY und wurden schließlich im Tunnel aufgestellt. Am 19. September 1990 stand der letzte Protonenmagnet an Ort und Stelle, am 8. November feierte man die Fertigstellung und Inbetriebnahme des Speicherrings. In der Nacht vom 14. zum 15. April 1991 gelang es, im HERA-Ring zum ersten Mal Protonen zu speichern. Am Nachmittag des 19. Oktobers 1991 – einem Samstag – war es schließlich so weit: HERA lieferte die ersten Elektron-Proton-Zusammenstöße.

 

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/experimente/teilchenbeschleuniger/hera/der-hera-bau/