Die Ernte jahrzehntelanger Vorarbeiten

Jeannine Wagner-Kuhr

Proton-Proton-Kollision im CMS; Quelle: CERN, Lucas Taylor

Jeannine Wagner-Kuhr vom Karlruher Institut für Technologie arbeitet am CMS-Experiment am LHC. Gemeinsam mit ihrer Gruppe half sie mit, das neue Teilchen zu entdecken.

Dieser Sommer ist für mich eine besonders aufregende und spannende Zeit. Ich suche am CMS-Experiment nach dem im Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagten Higgs-Teilchen. Im Winter 2011 ließen sich in den Messdaten die ersten Hinweise auf die Existenz dieses Elementarteilchens finden. Mit fast der doppelten Datenmenge sowie verbesserten Analysemethoden haben sich diese Hinweise inzwischen erhärtet. Es ist die erste wirklich ganz große Entdeckung für mich als Wissenschaftlerin, zu der ich selbst beigetragen habe.

Jeannine Wagner-Kuhr und ihre Forschergruppe

Jeannine Wagner-Kuhr und ihre Forschergruppe

Als Leiterin einer Arbeitsgruppe am Karlruher Institut für Technologie suche ich zusammen mit einigen Studenten und jungen Postdocs nach einem bestimmten Zerfall des Higgs-Teilchens – und zwar in zwei Bottom-Quarks. Quarks treten in sechs verschiedenen Sorten auf und bilden als elementare Materiebausteine komplexere Teilchen, wie etwa Protonen und Neutronen. Als man das Top-Quark 1995 am US-Forschungszentrum Fermilab entdeckte, begann ich gerade Physik zu studieren. Damals habe ich das Geschehen nur in der Presse mitverfolgen können. Es war immer mein Traum, an einer ganz großen Entdeckung in der Teilchenphysik beteiligt zu sein.

Spuren des Higgs-Teilchens

Als Postdoc habe ich dann an demselben Experiment am Fermilab nahe Chicago gearbeitet, in dem Wissenschaftler Jahre zuvor das Top-Quark gefunden hatten. Ich suchte bereits damals nach Spuren in den Daten, die auf den Zerfall des Higgs-Teilchens in zwei Bottom-Quarks hindeuten. Allerdings war die Datenmenge am Fermilab zu gering, um das Higgs zu finden. Im CMS-Experiment am Large Hadron Collider (LHC) haben wir nun endlich Evidenz für ein neues Teilchen.

Die jetzigen Resultate sind die Ernte jahrzehntelanger Vorarbeiten: Detektorbau, Aufbau und Inbetriebnahme der nötigen Computing-Struktur sowie Inbetriebnahme und Verständnis des neuen Detektors. Zudem galt es, die bekannten Prozesse bei der bisher unerreicht hohen Energie des LHC aufzuarbeiteten und die Protonenkollisionen sowie die daraus resultierenden Ereignisse – darunter auch die Produktion und der Zerfall des Higgs-Teilchens – in Zusammenarbeit mit Theoretikern detailliert am Computer zu simulieren.

Gemeinsam mit meiner Gruppe habe ich dazu beigetragen, die Spuren des Higgs-Teilchens letztlich im CMS-Detektor aufzuspüren. Ein wesentlicher Schritt dorthin besteht darin, alle anderen Ereignisse im Detektor genau zu charakterisieren, um sie dann aus den Daten herausfiltern zu können. Ein solches Ereignis ist der Zerfall eines anderen schweren Elementarteilchens, des sogenannten Top-Quarks, der deutlich häufiger auftritt als der Zerfall des Higgs-Teilchens. Die dabei entstehenden Zerfallsprodukte weisen eine ähnliche Impuls- und Energieverteilung auf wie die Higgs-Ereignisse. Deshalb haben wir experimentell die Produktion von Top-Quarks bei den hohen Energien im LHC untersucht. Andere Gruppen bei CMS haben sich dagegen um andere Teilchen gekümmert, die ebenfalls zum Untergrund beitragen.

Zudem haben wir Teilchenbündel im Detektor identifiziert, die aus Bottom-Quarks hervorgehen. Diese sogenannten b-Jets enthalten Teilchen, die eine Strecke von etwa einem Milimeter zurücklegen, bevor sie zerfallen. Mit dem Siliziumdetektor lassen sich solche kleinen Strecken auflösen. Die in diesem Teil des CMS-Detektors aufgenommenen Daten werden dann in Computeralgorithmen genutzt, um b-Jets zu identifizieren. Hierzu haben wir beigetragen. Auch die Produktionsrate von Bottom-Quarks konnten wir zusammen mit anderen Kollegen erstmals messen. Da das Higgs-Teilchen vorrangig in Bottom-Quarks zerfällt, ist dieser Wert besonders wichtig für die Suche.

Standardmodell oder neue Physik?

Ereignis im CMS-Detektor

Ereignis im CMS-Detektor

Nach der jahrelangen Vorarbeit konzentrieren wir uns nun – in der heißen Phase – auf die direkte Analyse von Zerfällen des Higgs-Bosons in zwei Bottom-Quarks. Im Gegensatz zu den Zerfallskanälen in zwei Photonen oder zwei Z-Teilchen ist die Sensitivität auf das Higgs-Boson hier zwar noch etwas schlechter, liegt aber dennoch in der gleichen Größenordnung. Bisher haben wir allerdings kein Signal gefunden. Bei dem vom Standardmodell vorhergesagten Zerfall des Higgs in zwei Tau-Leptonen, nach dem bei CMS ebenfalls gesucht wird, sieht man sogar ein Defizit. Lässt sich das mit weiteren Daten bestätigen, wäre dies ein sicheres Indiz dafür, dass wir neue Physik gefunden haben. „Das“ Higgs-Teilchen, wie es das Standardmodell der Teilchenphysik vorhersagt, wäre damit zwar ausgeschieden. Dennoch könnte es sich um „ein“ Higgs-Teilchen handeln, mit etwas anderen Eigenschaften.

In den nächsten Monaten wird sich durch zusätzliche Daten aus dem Teilchenbeschleuniger klären lassen, ob es sich bei dem neuen Teilchen tatsächlich um das lang gesuchte Higgs handelt oder doch um ein higgsartiges oder sogar ein bisher unbekanntes Teilchen. Für mich persönlich wäre ein Abweichen vom Standardmodell noch spannender, denn dann hätten wir einen ganz klaren Beweis für etwas Neues und Unerwartetes gefunden. Und daraus könnten wir vielleicht etwas über die noch offenen Fragen bezüglich der Natur der fundamentalen Teilchen sowie der Entstehung und Entwicklung unseres Universums lernen.

 

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/higgs/der-lange-weg-zum-higgs-teilchen/higgs-suche-am-cms-experiment/