Molekül-Schicht mit enormer Rechenpower

Organisches Prozessor-Konstrukt imitiert das sich entwickelnde, "lernende" Hirn: Die Molekülstruktur bewältigt massives Parallelrechnen für bislang schwer zu lösende Probleme und kann Schäden selbst reparieren

Rechnende Molekülschicht

Rechnende Molekülschicht

Tsukuba (Japan)/Houghton (USA) - Auch wenn Supercomputer immer neue Rechenrekorde liefern, ist das menschliche Hirn ihnen noch weit überlegen. Doch erstmals kann jetzt ein Computer aus Molekülen unsere neuronalen Strukturen imitieren: Eine dünne organische Schicht auf einer Goldunterlage verarbeitet parallel diverse logische Aufgaben, ähnlich wie die Zellen eines Hirns. Die Prozessoren in klassischen Computern hingegen können nur sequentiell rechnen, also Aufgaben Bit für Bit abarbeiten. Die Muster des neuen Rechners in Aktion, unter dem Rastertunnelmikroskop betrachtet, ähneln verblüffend medizinischen Aufnahmen von arbeitenden Gehirnen. Zudem soll das Konstrukt aus Molekülen wie das Hirn "lernfähig" sein, indem es sich mit der Berechnung verändert und auftretende Defekte eigenständig und flexibel ausgleicht, berichten die Forscher im Fachblatt "Nature Physics". So soll es Rechenprobleme lösen helfen, mit denen klassische Computer bisher überfordert sind: etwa die Vorhersage von Seuchenausbreitung und Naturkatastrophen. Zum Nachweis der Fähigkeiten ihrer "rechnenden" Molekülschicht simulierte das Team verschiedene Naturphänomene. Damit haben sie eine mehr ein halbes Jahrhundert alte Theorie in die Praxis umgesetzt. Ein tatsächlicher Einsatz solch evolutionärer Schaltkreise dürfte allerdings noch in weiter Ferne liegen.

"Die tolle Sache ist: Ungefähr 300 Moleküle sprechen während der Informationsverarbeitung gleichzeitig miteinander - wir haben imitiert, wie Nervenzellen im Hirn sich verhalten", erzählt Ranjit Pati, Physiker an der Michigan Technological University. "Die entstehenden, Neuronen-gleichen Schaltkreis-Netzwerke erlauben uns, viele Probleme auf demselben Raster anzugehen. Das verleiht dem Konstrukt Intelligenz". Gemeinsam mit Kollegen der japanischen Nationalinstitute für Materialforschung (NIMS) und für Informations- und Kommunikationstechnologie (NICT) hatte Patis Team organische Moleküle auf ein Goldsubstrat aufgebracht. Nach der Idee von Anirban Bandyopadhyay vom NIMS nutzten die Forscher so genannte DDQ-Moleküle - aufgebaut aus Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Chlor - die sich auf der Unterlage selbst in einer Doppellage anordneten. Jedes Molekül kann zwischen vier unterschiedlichen leitenden Zuständen wechseln: quasi zwischen 0,1,2 und 3. Mithilfe der elektrisch geladenen Spitze eines Rastertunnelmikroskopes versetzte das Team dann einzelne Moleküle in einen gewünschten Zustand - als schriebe es Daten in das System. Da jedes Molekül über sein elektrisches Feld mit seinen Nachbarn in Verbindung steht und mit Information in Form von Elektronen austauscht, kann die Veränderung des einen auch für Veränderungen der angrenzenden Moleküle sorgen. Diese Wirkung untereinander entspricht laut Team elektrischem Strom im klassischen Computer, der die Transistoren schaltet und somit Nullen und Einsen kodiert. Und ähnlich wie sich im Hirn die Verarbeitungswege mit der Zeit verändern, was das Lösen komplexer Probleme einfacher macht, weisen die Forscher darauf hin, dass sich auch die Strukturen in ihrer Monoschicht aufbauend aufeinander verändern.

Muster wie Linien, Dreiecke, Rhomben und Sechsecke entstanden durch die definierten Zustände von mindestens 300 Molekülen - jedesmal verschoben durch neues "Hineinschreiben" von Information, das Verändern einzelner Zustände. "Dies ist sehr aufregend, ein konzeptueller Durchbruch! Dies könnte verändern, wie Menschen über molekulares Rechnen denken", erklärt Pati - und meint damit auch die "Selbstheilungskräfte" im neuartigen organischen Rechner. Tritt ein Defekt auf, kann ihn der Molekularrechner eigenständig beheben, da sich die Moleküle in der dünnen Schicht automatisch neu organisieren können. "Kein existierender Computer aus Menschenhand hat diese Eigenschaft, aber unser Gehirn", bestätigt Bandyopadhyay: "Wenn ein Neuron stirbt, übernimmt ein anderes seine Funktion."

Um die Rechenkraft ihrer Molekularschicht zu demonstrieren, simulierten die Forscher erfolgreich zwei Naturphänomene auf der atomaren Ebene, nämlich Wärmediffusion innerhalb eines Materials und die Ausbreitung von Krebszellen im Körper. Auf derselben Basis soll der organische Prozessor Rechenprobleme lösen können, zu denen heutige Computer durch ihre Struktur nicht in der Lage sein sollen, selbst wenn man ihnen unbegrenzt Rechenzeit gäbe. Die schnellsten Digitalrechner leisten mittlerweile mehr als eine Billiarde Rechenschritte pro Sekunde (PetaFLOPS), die allerdings wie schon in den 1950er Jahren sequentiell - nacheinander - ausgeführt werden. Hingegen verarbeitet das Geflecht aus Hirnzellen die Aufgaben massiv parallel: Jedes einzelne Neuron feuert zwar nur rund 103 Mal pro Sekunde, doch arbeiten Millionen von Nervenzellen gleichzeitig und sind so derzeitigen Supercomputern noch extrem überlegen. Das gilt nicht nur in Sachen Flexibilität, sondern auch bei der Rechenkraft, selbst für so genannte Parallelrechner, in welchen Tausende von sequentiellen Prozessoren die Aufgaben gleichzeitig oder synchronisiert miteinander abarbeiten. Im Endeffekt muss sich der Computer mit dem zu lösenden Problem dynamisch weiterentwickeln, indem seine Teile untereinander kommunizieren, so die Forscher - wozu ihr Molekül-Konstrukt in der Lage sein soll.

Fernziel des Forscherteams ist, mithilfe molekularer Computer Lösungen für Probleme zu finden, die sich schlecht definieren lassen und für die bisher keine Rechenalgorithmen bekannt sind - inklusive der Vorhersage von Galaxienentwicklung, Naturkatastrophen und Seuchenausbrüchen. Auch dürften Roboter davon profitieren, indem sie kreativer und "intelligenter" auf eine sich verändernde Umwelt eingehen können. Bislang größte Schwäche des neuen Systems: Das Beeinflussen per Rasterkraftmikroskop ist ein langsamer Prozess, der künftig mindestens durch multiple Mikroskopspitzen beschleunigt werden müsste, so Pati. Denkbar sei auch der Einsatz von Molekülen mit mehr als vier definierten Zuständen. Derzeit arbeitet das Team allerdings zunächst am Erweitern der Rechenfläche auf rund tausend interagierende Molekül-Schalter.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/technik/nachrichten/2010/molekuel-schicht-mit-enormer-rechenpower/