Der lange Weg zu HERA

Ilka Flegel

Blick in den HERA-Tunnel

Als der norwegische Physiker Bjørn H. Wiik 1971 nach sechs Jahren in den USA wieder nach Deutschland zurückkehrte, hatte er eine bahnbrechende Idee im Gepäck. Er wollte ein überdimensionales Elektronenmikroskop für Protonen bauen: eine Anlage, die den Physikern die innersten Geheimnisse des Protons und der Grundkräfte der Natur offen legen würde.

Dazu sollten Elektronen und die fast 2000-mal schwereren Protonen in zwei getrennten Beschleunigerringen gespeichert und bei höchsten Energien frontal zum Zusammenstoß gebracht werden – ein völlig neuartiges Konzept.

So etwas hatte bisher noch keiner versucht. Entweder ließ man bei den Teilchenphysik-Experimenten zwei Strahlen gleich schwerer Teilchen in einem einzigen Beschleuniger im gleichen Vakuumrohr aufeinander prallen, oder man lenkte einen einzelnen Teilchenstrahl auf ein ruhendes Ziel. Bewegen sich beide Teilchensorten aufeinander zu, so ist die Energie des Stoßes viel größer, als wenn sich nur einer der Kollisionspartner bewegt. Je höher die Energie beim Zusammenstoß der Teilchen ist, desto tiefer können die Physiker in die Materie hineinblicken; desto kleiner sind die Abstände, die sie dabei untersuchen, und desto feiner die Details, die sie erkennen können. Damals wusste jedoch niemand, ob es tatsächlich möglich sein würde, zwei derart unterschiedliche Teilchensorten wie Elektronen und Protonen in zwei getrennten Ringen zu beschleunigen, um sie dann im Flug zusammenstoßen zu lassen.

Die Idee, Teilchen als Sonden zu verwenden, um die Struktur größerer Gebilde zu untersuchen, hat eine lange Tradition. „Streuversuch“ heißt dieses Prinzip. Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte Ernest Rutherford auf diese Art und Weise den Atomkern. „Ich hatte den Eindruck, mit einem Gewehr auf ein Stück Seidenpapier zu schießen und dass auf einmal eine der Kugeln nach hinten abprallte.“ So soll er angeblich das von seinen Assistenten Hans W. Geiger und Ernest Marsden durchgeführte Experiment kommentiert haben. Die Gewehrkugeln sind natürlich symbolisch gemeint. Rutherford lenkte Alphateilchen auf eine hauchdünne Goldfolie und beobachtete, in welche Richtungen die Teilchen abgelenkt wurden. Die Überraschung, dass einige Teilchen zurückprallten, konnte nur eines bedeuten: Im Inneren der Atome musste sich etwas Kleines, Hartes befinden – der Atomkern.

Blick in einen langen, hell erleuchteten Tunnel, in dem auf der rechten Seite ein Teilchenbeschleuniger aufgebaut ist. Dieser besteht aus zwei übereinander liegenden Stahlröhren, die von zahlreichen Magneten und anderen komplexen technischen Komponenten umgeben sind.

Die Hadron-Elektron-Ring-Anlage HERA

Die Methode der Streuversuche entwickelte sich zum erfolgreichen Handwerkszeug. Insbesondere die elementaren, punktförmigen Elektronen erwiesen sich als ideale „Sonden“, um die Struktur komplexerer Gebilde auszuloten. Vierzig Jahre nach Rutherfords Entdeckung beschoss Robert Hofstadter an der Universität Stanford in den USA die Kerne von Wasserstoffatomen, also Protonen, mit einem Elektronenstrahl – und stellte fest, dass die Protonen keinesfalls „Punkte“ sind, sondern einen messbaren Durchmesser besitzen. Diese „Verschmierung“ lieferte den Beweis, dass das Proton eine innere Struktur besitzen muss. Genaueres konnte Hofstadter 1954 allerdings nicht herausfinden, dafür reichte die Energie seiner „Sonden“ nicht aus. 1967 beobachteten die Physiker am DESY-Synchrotron in Elektron-Proton-Streuversuchen ungewöhnliche Reaktionen, die weitere Anzeichen für eine Substruktur des Protons lieferten. Im selben Jahr war die Beschleunigertechnik schließlich weit genug fortgeschritten, um den Forschern am Beschleunigerzentrum SLAC in Stanford eindeutige Aussagen zu ermöglichen. Jerome I. Friedman, Henry W. Kendall und Richard E. Taylor ließen einen Elektronenstrahl mit der höchsten verfügbaren Energie auf flüssigen Wasserstoff prallen – und konnten zum ersten Mal die Existenz harter Streuzentren innerhalb der Protonen beweisen. Sie hatten die Quarks gefunden, die umstrittenen, von Murray Gell-Mann und George Zweig postulierten Bausteine der Protonen und Neutronen, die bei den meisten Physikern damals als rein mathematische Spielereien verpönt waren. 1990 trug diese Entdeckung den drei Physikern – wie schon Hofstadter vor ihnen – den Nobelpreis für Physik ein.

Doch wie lässt sich diese Erfolgsgeschichte fortsetzen? Wie erreicht man den Sprung in der Kollisionsenergie, der nötig ist, um die winzigen Quarks und die weiteren Unterstrukturen des Protons sichtbar zu machen? Hier setzte Bjørn H. Wiiks Idee an, Elektronen und Protonen getrennt zu beschleunigen und frontal zusammenprallen zu lassen. Doch bis zu ihrer Realisierung sollte noch einige Zeit ins Land gehen. Die Physik mit Elektronen und ihren Antiteilchen, den Positronen – DESYs Spezialgebiet –, lieferte damals eine Fülle von spannenden Ergebnissen, so dass das Proton-Elektron-Konzept schnell wieder ins Hintertreffen geriet. So stand das „P“ von PETRA, der 1973 ausgearbeiteten „Proton-Elektron-Tandem-Ring-Anlage“, schon 1974 wieder für „Positron“. Als sich jedoch Ende der 1970er Jahre abzeichnete, dass das Europäische Laboratorium für Teilchenphysik CERN in Genf mit dem großen Speicherring LEP nun auch auf die Elektron-Positron-Physik umsteigen würde, entschied man sich bei DESY, in Zukunft auf das neuartige Prinzip des „Super-Elektronenmikroskops“ zu setzen. 1980 folgte die erste Projektstudie, 1981 war der Vorschlag ausgearbeitet und positiv begutachtet. Am 6. April 1984 unterzeichneten der Bundesminister für Forschung und Technologie Heinz Riesenhuber und der Hamburger Wissenschaftssenator Hansjörg Sinn bei DESY in Hamburg das Abkommen zum Bau. Die „Hadron-Elektron-Ring-Anlage“ HERA war geboren, die weltweit einzige Speicherringanlage, in der zwei unterschiedlich schwere Teilchenarten zur Kollision gebracht werden.

 

  • Anfang der 1970er Jahre: erste Ideen für ein „Super-Elektronenmikroskop“ für Protonen
  • Ende der 1970er Jahre: erste technische Vorarbeiten zum Bau supraleitender Ablenkmagnete bei DESY
  • März 1980: erste Projektstudie
  • Februar 1981: positive Begutachtung durch den Gutachterausschuss des damaligen Bundesforschungsministeriums (BMFT), hohe internationale Beteiligung als Voraussetzung gefordert
  • Juli 1981: detaillierter Projektvorschlag
  • 22. Februar 1983: BMFT schafft finanzielle Voraussetzungen für den Bau von HERA
  • 6. April 1984: Unterzeichnung der Vereinbarung zum Bau von HERA
  • 15. April 1984: erster Spatenstich
  • 8. Mai 1985: Schildvortriebsmaschine beginnt mit Tunnelbohrung
  • 6. März 1987: Aufbau des Elektronenrings beginnt
  • 19. August 1987: Schildvortriebsmaschine erreicht wieder ihren Ausgangspunkt
  • 20. August 1988: Erster Elektronenstrahl wird gespeichert
  • 1. März 1989: Aufbau des Protonenrings beginnt
  • 8. November 1990: Fertigstellung von HERA
  • 15. April 1991: Erster Protonenstrahl wird gespeichert
  • 19. Oktober 1991: erste Elektron-Proton-Kollisionen
  • 1. Oktober 1992: HERA nimmt mit den Experimenten H1 und ZEUS den Forschungsbetrieb auf
  • 4. Mai 1994: erste longitudinale Polarisation des Elektronenstrahls
  • 1995: Inbetriebnahme des dritten HERA-Experiments HERMES
  • 1999: Inbetriebnahme des vierten HERA- Experiments HERA-B
  • September 2000 bis Sommer 2001: Umbau zur Steigerung der Luminosität (HERA II)
  • 2001-2002: Inbetriebnahme und Optimierung von HERA II
  • bis 2007: Forschungsbetrieb von HERA II

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/experimente/teilchenbeschleuniger/hera/hera-geschichte/