Spintronik mit Solitonen

Vladislav E. Demidov und Sergej O. Demokritov

Spinwellensoliton

Die Spintronik verheißt die Grenzen der herkömmlichen Halbleitertechnologie bei Weitem zu übertreffen. Im Computer der Zukunft könnten Spinwellen-Solitonen die Daten zwischen einzelnen Bauteilen superschnell übertragen. Dabei begann alles vor knapp 200 Jahren in einem Wasserkanal in Schottland.

Eigentlich wollte der schottische Forscher John Scott Russell im August 1834 das Design von Kanalbooten verbessern. Doch während ein Boot von Pferden durch einen Wasserkanal gezogen wurde und abrupt stoppte, erzeugte Russell unbeabsichtigt eine ganz besondere Art von Wasserwelle: Ein einzelner großer Wellenberg löste sich vom Bug des Bootes und schnellte durch den Kanal, ohne an Höhe zu verlieren oder seine Form zu verändern. Kilometerlang verfolgte Russell den Wellenberg auf dem Pferderücken, bis das Phänomen ihn schließlich in dem Gefühl einer großen Entdeckung hinter sich ließ. Russell hatte zum ersten Mal ein Soliton beobachtet – einen Wellenberg, der über lange Zeit stabil ist und nicht zerläuft, wie es bei anderen Wellenarten geschieht.

In einem etwa fünf Meter breiten Kanal steht eine einzelne Welle vor einer Gruppe in einem Motorboot. Am Rand stehen Schaulustige.

Erzeugung einer solitären Welle

Wellen sind ein grundlegendes Phänomen in der Natur. Im Alltag finden sich neben der anschaulichen Wasserwelle zum Beispiel Schallwellen in Form von Geräuschen, Mikrowellen, die Essen erwärmen, und Radiowellen für Fernsehen und Hörfunk. Besonders interessant für technische Anwendungen sind einzelne Wellenberge, sogenannte „Wellenpakete“. Beispielsweise werden in der modernen Kommunikationstechnologie Nullen und Einsen in Form von kurzen Lichtwellenpaketen durch Glasfasern geschickt, um digitale Informationen zu übertragen.

Ein Wellenpaket besteht jedoch stets aus vielen Wellen mit verschiedenen Frequenzen. Diese einzelnen Bestandteile breiten sich unterschiedlich schnell aus, je nachdem durch welches Material sich das Wellenpaket bewegt. Physiker nennen diesen Zusammenhang zwischen der Ausbreitungsgeschwindigkeit und der Wellenlänge „Dispersion“. Dadurch zerfließt das Wellenpaket mit der Zeit und aus einem steilen Wellenberg wird ein breites flaches Etwas. In einem Glasfaserkabel würde das den Verlust der Informationen bedeuten.

Grafik, vierteilig: links ein glockenförmiges Wellenpaket. Zwei Pfeile weisen zu der Darstellung der Dispersion, bei der das Paket einfach breiter und flacher wird, und zur Nichtlinearität, bei der es verzerrt wird. Von diesen zwei Darstellungen weist wieder je ein Pfeil auf die Darstellung des Solitons als zeitlich stabilem Wellenpaket. Es sieht in dieser idealisierten Grafik genau so aus wie das ursprüngliche Wellenpaket.

Entstehung eines Solitons

So kommt den von Russell entdeckten Solitonen heutzutage in verschiedenen Bereichen der Physik eine wichtige Bedeutung zu. Dabei halten sich bei einem Soliton zwei gegensätzliche Effekte genau die Waage und führen so zu einem stabilen Wellenberg: Einerseits zerläuft das Wellenpaket aufgrund der Dispersion. Dem entgegen wirkt der Effekt der sogenannten Nichtlinearität. Denn bei besonders starken Wellen können sich die hohen Teile des Wellenbergs schneller bewegen als die niedrigen Teile. Ähnlich einer brechenden Wasserwelle holt der Wellenkamm so den niedrigen Teil des Wellenbergs ein. Dadurch wird die Welle zusammengedrückt. Halten sich das nichtlineare Zusammendrücken und das dispersionsbedingte Zerlaufen gerade genau die Waage, erhält das Wellenpaket seine Form und man spricht von einem Soliton. Obwohl Russells Zeitgenossen das Phänomen als unwichtige Randerscheinung abtaten, werden Solitonen heutzutage für unterschiedliche technische Anwendungen untersucht: zur Sicherheit der Schifffahrt, für die Datenübertragung in Glasfaserkabeln und in Form von Spinwellen-Solitonen für den Computer der Zukunft.

Spintronik - die Elektronik der nächsten Generation

Herkömmliche Elektronik basiert auf der Bewegung elektrischer Ladungen, den Elektronen. Diese Teilchen besitzen aber eine bisher ungenutzte Eigenschaft, nämlich den Spin, der für das magnetische Moment des Elektrons zuständig ist. Durch die Beherrschung der Bewegung des Spins des Elektrons ließe sich eine ganz neue Art von Elektronik realisieren, die inzwischen Spintronik" genannt wird. Anschaulich erzeugt der Spin des Elektrons ein Magnetfeld ähnlich dem eines winzigen Stabmagneten. Wie eine Kette solcher Stabmagnete beeinflussen sich benachbarte Elektronenspins gegenseitig. Stößt man einen Spin an, so führt die Anregung zu einer Spinwelle, bei der die Spins gemeinsam wellenförmig rotieren.

Grafik: sechs kleine trichterförmige Illustrationen der Bewegung von Elektronenspins, hintereinander gereiht. Am oberen Rand des nach oben offenen Trichters ist mit kreisförmigen Pfeilchen die präzedierende Bewegung gezeigt. Ein dickerer Pfeil von der Trichterspitze nach oben zum Rand stellt jeweils den Spin dar. Dieser Pfeil bewegt sich in der Kette der Illustrationen einmal am Mantel außen herum.

Modell einer Spinwelle

Besonders interessant sind stabile Spinwellenpakete, bei denen sich eine Auslenkung der Spins wie ein einzelner Wellenberg durch das Material ausbreitet. Mit solchen Paketen ließen sich zum Beispiel Informationen zwischen verschiedenen elektronischen Bauteilen austauschen. Die Schaltkreise könnten sich gegenseitig Spinpakete zuschicken, ohne wie bisher elektrische Verbindungen zwischen den Bauteilen zu benötigen. Denn eine Schicht aus magnetischem Material würde den Spinpaketen genügen, um sich zwischen den Komponenten auszubreiten. Da die Pakete durch die magnetische Schicht gezielt von einem Bauteil zum nächsten geschickt werden können, wären Leitungen, die zwei Bauteile miteinander verbinden, überflüssig. Die Geschwindigkeit einer solchen spintronischen Technik würde die Halbleitertechnologie weit in den Schatten stellen, da sie nicht den grundlegenden Beschränkungen der konventionellen Halbleiterelektronik unterworfen ist. Beispielsweise ließen sich fundamentale Grenzen der Miniaturisierung überwinden und so wesentlich mehr Schaltkreise auf der gleichen Fläche unterbringen als bislang.

Doch wie so oft steht auch hier harte Arbeit vor dem Vergnügen. Denn wie bei allen anderen Wellenpaketen zerläuft auch ein Spinpaket mit der Zeit und wird zu einer breiten Spinwelle. Zum Datentransfer sind aber stabile Wellenpakete erforderlich und so kommt den Solitonen auch in der Spintronik eine wichtige Bedeutung zu.

Dem Spin-Soliton auf der Spur

Grafik: Links eine waagrecht auf einer magnetischen Schicht liegende Antenne. Ein als Glockenkurve dargestelltes Soliton ist darüber hinweg gelaufen und bewegt sich jetzt auf den nach oben gerichteten Lichtkegel eines Lasers zu. Am Fuß des Lasers zeigen Pfeile an, dass der Ursprung des Laserstrahls an einen beliebigen Punkt der Magnetschicht bewegt werden kann.

Untersuchung von Spinwellen-Solitonen

Während Russell seinem Wasser-Soliton damals noch hinterher reiten konnte, müssen Wissenschaftler heutzutage zu raffinierteren Methoden greifen, um die Spin-Solitonen zu untersuchen. So tritt an die Stelle des langen Wasserkanals ein Kristall aus Eisen, Yttrium und Sauerstoff, in dem sich Spinwellen ausbreiten können. Da das Material die Spinwelle nur wenig abschwächt, kann sich ein Spinpuls in dem Kristall über mehrere Zentimeter ausbreiten. Das klingt zunächst nach nicht viel. Bedenkt man aber, dass moderne elektronische Bauteile nur einige Nanometer (Milliardstel Meter) groß sind, erscheint die Distanz riesig.

Die Spinwelle wird in dem Kristall mithilfe einer Antenne angestoßen. Ähnlich einer schwingenden Stimmgabel, die auf einen Tisch gesetzt wird, überträgt sich der elektromagnetische Puls aus der Antenne auf den Kristall in Form eines Spinwellenpakets. Dieses Spin-Soliton bewegt sich dann mit etwa 10.000 Kilometer pro Stunde über die Oberfläche des Kristalls. Um von dem Soliton nicht abgehängt zu werden wie einst Russell, verwenden die Forscher heutzutage Laserlicht zur Untersuchung der Welle. Denn verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit breiten sich Spinwellen-Solitonen immer noch langsam in dem Kristall aus. Daher haben die Forscher genügend Zeit, die Form der Spinwelle auf der Oberfläche des Kristalls zu verschiedenen Zeitpunkten zu messen.

Dreidimensionales Diagramm. In der Ebene sind die Ausbreitung von 0 bis 8 Millimetern und die Breite von 0 bis 6 Millimetern aufgetragen, nach oben die Intensität ohne Einheitenangabe. Die Messung zeigt etwa gleich breite Spitzen, die verschieden hoch sind: Die hinterste mit der Beschriftung "30 Nanosekunden" ist fast so hoch wie die zweite bei 65 Nanosekunden, gleichzeitig auch die höchste Spitze. Die dritte bei 90 Nanosekunden ist etwas kleiner als die erste, die vierte bei 125 Nanosekunden hat schon nur noch etwa ein Viertel der Maximalhöhe. Die fünfte bei 150 Nanosekunden ist hat eine noch geringere Intensität.

Beobachtung eines Spinbullets

Befund: zukunftstauglich

Seitdem Spinwellen-Solitonen 1983 von russischen Wissenschaftlern entdeckt wurden, haben sich viele experimentelle und theoretische Untersuchungen mit ihnen befasst. Dank moderner Experimente ist es inzwischen möglich, nicht nur breite Spinwellen zu beobachten, sondern sogar punktförmige Spin-Solitonen. Diese sogenannten Spinwellen-Bullets (engl. bullet = Geschoss) sind insbesondere in der Informationstechnologie hochinteressant. Die kurzen Pulse wären perfekte Vermittler zwischen integrierten Schaltkreisen. Und so könnte Russells Entdeckung nach 200 Jahren den Weg in den Computer der Zukunft finden: als Spinwellen-Soliton.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/spintronik/solitonen/