Metallische Gläser – robust und extrem vielseitig

Franz Faupel, Klaus Rätzke, Björn Gojdka

 Zahnrad aus metallischem Glas

Metalle sind aus der modernen Zivilisation nicht wegzudenken und begleiten den Menschen schon seit Jahrtausenden. Um völlig neue Materialeigenschaften zu erzeugen, greifen Wissenschaftler gezielt in die Ordnung der Metallatome ein. Die daraus resultierenden metallischen Gläser besitzen einzigartige Eigenschaften und sind eine der modernsten Materialarten unserer Zeit.

Ein elektronenmikroskopisches Bild des mikroskopisch kleinen Zahnrades. Es hat nur etwa 60 Mikrometer Durchmesser, ist also etwa 1000 mal kleiner als herkömmliche Zahnräder. Von diesen unterscheidet es sich optisch nur darin, dass die Zähne etwas runder aussehen.

Hochpräzises Zahnrad aus metallischem Glas

Nein, es geht nicht um Glas. Zumindest nicht im alltäglichen Sinn. Denn spricht man im Alltag von Glas, geht es meist um Trinkgefäße, Fensterscheiben oder teure Scherben. Für einen Materialwissenschaftler ist Glas jedoch ein viel allgemeinerer Begriff. In der Wissenschaft nennt man ein Material glasförmig, wenn dessen Atome nicht in regelmäßigen Abständen zueinander stehen, sondern sich völlig unregelmäßig im Material anordnen. In genau diesem Zustand der Unordnung befinden sich metallische Gläser und das hat weitreichende Konsequenzen für ihre Eigenschaften.

Die Härte metallischer Gläser stellt herkömmlichen Stahl weit in den Schatten. Trotzdem lassen sie sich bei weniger als 300 Grad Celsius ähnlich wie Plastik in Form spritzen. Diese einzigartige Verarbeitung der metallischen Gläser erlaubt es, Bauteile viel präziser als mit üblichen Metallen herzustellen. So können Feinheiten mit einer Genauigkeit von nur einem Millionstel Meter gegossen werden – das ist sechzig Mal dünner als ein Haar. Manche Formen sind sogar erst dank metallischer Gläser möglich. Unglaublich klingen Schäume, die zu 99 Prozent aus Luft bestehen und trotzdem 100 Mal härter als Styropor sind. Doch sind solche Materialien aus metallischem Glas bereits Realität geworden. Die Ursache für diese verblüffenden Eigenschaften liegt in der Anordnung der Atome in einem metallischen Glas.

Alles in Ordnung?

Normalerweise sind die Atome in einem Metall regelmäßig angeordnet, ähnlich wie Murmeln in einem Kasten. Dieser geordnete Zustand heißt kristallin und ist typisch für Metalle. Über große Bereiche hinweg nehmen die Atome immer die gleichen Positionen und Abstände zueinander ein. Solch ein geordneter Bereich wird Korn genannt und ein Stück Metall besteht aus einer riesigen Anzahl zusammenhängender Körner.

Anders als im kristallinen Zustand liegen die Atome in einem metallischen Glas völlig ungeordnet vor. Es gibt weder Körner noch Korngrenzen, sondern nur durcheinander gemischte Atome, die beim Abkühlen der Schmelze auf ihren zufälligen Positionen einfroren. Diese atomare Unordnung der metallischen Gläser bringt viele Vorteile mit sich.

Vorteilhaftes Durcheinander

Querschnitte durch ein kristallines Metall und ein metallisches Glas: Die linke Darstellung des kristallinen Metalls zeigt schematisch wabenförmige Kristallkörner, die sich mit kleinen Zwischenräumen passend ineinander fügen. Der rechte Querschnitt durchs metallische Glas zeigt eine zufällig erscheinende Anordnung von hunderten Atomen, aus vier verschieden großen Atomsorten. In der Natur können natürlich noch mehr Atomsorten vorkommen.

Die Anordnung der Atome bestimmt die Materialeigenschaften.

Wird herkömmliches Metall als Schmelze in eine Form gegossen, zieht es sich beim Abkühlen zusammen, wobei die Präzision stark leidet. Die Ursache für das Schrumpfen liegt in der kristallinen Ordnung. Denn die Atome sind auf ihren geordneten Plätzen im erstarrten Metall näher beieinander als zuvor in der Schmelze. Metallisches Glas bleibt hingegen genau in der vorgegebenen Form, denn die Atome verharren beim Abkühlen einfach in ihrer Unordnung, ohne sich in ein engeres Gitter zu bewegen. Anschaulich kennt man das Phänomen vom Aufräumen des Schreibtisches: Der riesige ungeordnete Papierberg ist plötzlich viel kleiner, wenn man ihn in geordneten Stapeln in eine Kiste räumt. Wirft man die Blätter dagegen kreuz und quer in die Kiste, nehmen sie genau so viel Platz ein wie zuvor auf dem Schreibtisch. Dazu kommt, dass metallische Gläser schon bei niedrigen Temperaturen formbar werden. Das senkt zum einen die Verarbeitungskosten und erhöht zum anderen die Präzision, mit der das Material in Form gebracht werden kann.

Auch die Korrosion hat es schwer bei den metallischen Gläsern. Herkömmliche Metalle bieten der chemischen Zersetzung eine empfindliche Angriffsfläche zwischen den einzelnen kristallinen Bereichen. Denn an den Korngrenzen können aggressive Stoffe von außen eindringen und das Metall angreifen. Bei den metallischen Gläsern hingegen gibt es ohne kristalline Ordnung folglich auch keine Korngrenzen – und somit bleibt die Korrosion in vielen Fällen einfach außen vor.

Eine weitere besondere Eigenschaft der metallischen Gläser ist ihre Härte: Lässt man eine Stahlkugel auf eine Platte aus metallischem Glas fallen, so hüpft die Kugel ähnlich wie ein Flummi ausdauernd auf und ab. Wieder findet sich die Erklärung in der Anordnung der Atome: Konventionelle Metalle schlucken beim Aufprall der Kugel einen Teil der Wucht, weil sich die Atome in den Kristallkörnern durch den Stoß relativ zueinander verschieben. Denn durch die Ordnung in den winzigen Körnern bilden sich sogenannte Gleitebenen, entlang derer sich die Atome leichter bewegen. Das kann dem wirren Durcheinander der metallischen Gläser nicht passieren, da es ohne atomare Ordnung auch keine Gleitebenen gibt. Kein Wunder also, dass die Firma Liquidmetal 1998 zu Werbezwecken ausgerechnet einen Golfschläger aus ihrem metallischen Glas präsentierte. Durch die große Härte übertrug der Schläger einen größeren Impuls auf den Ball und sorgte so für weitere Abschläge.

Die Grafik zeigt, was beim Aufprall einer Kugel auf ein kristallines Metall beziehungsweise auf ein metallisches Glas passiert. Links: beim kristallinen Metall sind die Atome gleichartig und deshalb regelmäßig angeordnet, in der Grafik beispielhaft in einer hexagonalen, wabenförmigen Struktur. Dadurch lassen sich bei einem Aufprall ganze Gruppen von Atomen längs einer Gleitebene verschieben. Im Fall des hexagonalen Kristalls läuft die Gleitebene in etwa in Richtung des Aufpralls. Dessen Energie wird also zum Teil absorbiert. Daher hüpft eine Kugel nach dem Aufprall nicht so hoch wie sie gefallen war.

Metallische Gläser sind wesentlich härter als kristallines Metall.

Doch die Abwesenheit kristalliner Körner bringt auch den Erzfeind der metallischen Gläser mit sich: die Brüchigkeit. Metallische Gläser sind zwar sehr hart im Nehmen, doch geben sie erst einmal nach, dann ganz und gar. Während ihre kristallinen Gegenstücke zunächst Verformungen trotzen, indem sie sich verhärten, pflanzt sich ein Defekt in metallischem Glas lawinenartig fort. Beginnt sich ein Bruch zu bilden, wird das Metall an dieser Stelle durch Hitzeentwicklung weicher, der Bruch schreitet voran und das Spiel beginnt von vorn. So kann der Bruch einfach durch das gesamte Material laufen. Für kritische Anwendungen, bei denen ein plötzliches Totalversagen des Bauteils fatale Folgen hätte, sind der Verwendung metallischer Gläser deswegen Grenzen gesetzt. Doch auch an der Beseitigung dieser Hürde wird intensiv geforscht, und eine mögliche Lösung des Problems ist bereits gefunden. So haben Forscher vom California Institute of Technology einem metallischen Glas einzelne Kristallkörner beigefügt und damit das Wachstum von Rissen begrenzt.

Wie man Atome „verwirrt“

Aber wie hindert man die Atome überhaupt daran, ihre übliche kristalline Anordnung im Metall einzunehmen? In heißem, flüssigem Metall besitzen die Atome genügend Energie, um sich aus ihren festen Plätzen zu lösen und sich innerhalb der Schmelze frei zu bewegen. Kühlt man die flüssige Schmelze rasch genug ab, bleibt den ungeordneten Atomen keine Zeit, sich auf ihre Plätze zu begeben, bevor die Schmelze erstarrt. Das Resultat ist die eingefrorene atomare Unordnung einer Flüssigkeit. Dabei ist das Unterfangen weit schwieriger, als es zunächst klingen mag.

Erstmalig gelang es Forschern vom California Institute of Technology im Jahre 1960, ein metallisches Glas aus einer Gold-Silizium-Mischung zu erzeugen. Um die Atome in ihrer Unordnung einzufrieren, kühlten sie das Material dabei superschnell ab - mit einer Million Grad Celsius pro Sekunde! Diese unglaublich hohe Kühlgeschwindigkeit konnte allerdings nur in Zehntel Millimeter dicken Metallstücken erreicht werden. Daher war es bis in die 1980er Jahre nur möglich, dünne Bänder aus metallischem Glas zu fertigen. Um auch größere Stücke herstellen zu können, müssen Wissenschaftler tief in die Trickkiste greifen.

Reine Metalle mit nur einer Sorte von Atomen, wie etwa Kupfer oder Eisen, verwehren sich dem ungeordneten Glaszustand völlig. Denn egal, wie schnell man reine Metalle abkühlt, die Atome sind praktisch immer beweglich genug, um sich kristallin anzuordnen. Es ist also eine Mischung aus verschiedenen chemischen Elementen vonnöten, um ein metallisches Glas zu erzeugen. Der wesentliche Trick dabei ist, Elemente zu vermengen, die möglichst unterschiedliche Größen besitzen. Denn das daraus resultierende Kristallgitter ist so kompliziert, dass die verschiedenen Atome viel Zeit benötigen, um sich aus der flüssigen Unordnung auf ihre geordneten Plätze zu begeben. Dadurch reicht auch relativ langsames Abkühlen von wenigen Grad Celsius pro Sekunde aus, um die Mischung in ihrem gläsernen Zustand einzufrieren. Dieser Ansatz wird aus naheliegenden Gründen „Verwirrung der Atome“ genannt. Wie sich solche Atomgemische verwirren lassen, ist daher ein Schlüssel zum Verständnis der metallischen Gläser.

Die Grafik zeigt wie die Struktur eines metallischen Glases nach der Herstellung aussieht. Beispielhaft sind vier Atomarten gezeigt. Der Größe nach sind das Palladium, Kupfer, Nickel und Phosphor. Die größten Atome des Palladium bilden zusammenhängend, aber ungeordnet Ketten. In den Zwischenräumen befindet sich völlig ungeordnet jeweils in etwa die gleiche Anzahl der kleineren Atome.

Wie sich atomare Unordnung einfrieren lässt

Unsere Arbeitsgruppe untersuchte eine Mischung aus Palladium, Kupfer, Nickel und Phosphor. Diese Legierung ist dafür bekannt, auch beim langsamen Abkühlen in der gläsernen Unordnung zu erstarren. Aber warum genau sich das Atomgemisch so gut verwirren lässt, war bislang unklar. Zur Klärung dieser Frage haben wir erstmalig gemessen, wie beweglich die einzelnen Atomsorten in der Legierung während des Abkühlens sind (das Prinzip der Messung erklärt der Infokasten). Unsere Messungen offenbarten ein entscheidendes Phänomen, das die Kristallisation beim Abkühlen verhindert: Noch bevor die Schmelze erstarrt und alle Atome ihre kristalline Anordnung einnehmen, finden sich die Palladiumatome bereits zu einem relativ starren Gerüst zusammen. Dieses schwer bewegliche Etwas kann sich nur noch sehr langsam in die kristalline Ordnung begeben. Daher genügt es, die Mischung mit nur wenigen Graden pro Sekunde abzukühlen, um die flüssige Unordnung einzufrieren.

Das langsamere Kühlen reduziert nicht nur den technischen Herstellungsaufwand, sondern ermöglicht auch, größere Stücke metallischen Glases zu erzeugen. Den Rekord halten zurzeit Forscher von der Tohoku Universität in Japan mit einem Zylinder aus metallischem Glas, der einen Durchmesser von etwa sieben Zentimetern besitzt. Doch die rekordhaltenden Legierungen haben einen schwerwiegenden Nachteil: Sie bestehen zu einem großen Teil aus Palladium oder ähnlich exotischen Elementen, die sehr teuer sind.

(Fast) im Alltag angekommen

In den großen Kaufhäusern sind sie nicht mehr wegzudenken, die Alarmanlagen im Ausgangsbereich, die mal korrekt den Diebstahl einer Ware anzeigen, mal einen Fehlalarm auslösen, weil ein Etikett nicht deaktiviert wurde. Allerdings denken die wenigsten von uns in an metallische Gläser, wenn sie einen solchen Alarm hören. Doch genau diese sind es, die in Form kleiner Streifen die Produkte hüten. Die Streifen bestehen aus metallischen Gläsern, bei denen in das Metallgemisch auch magnetische Stoffe eingefügt sind. Für die Sicherung der Waren wird ausgenutzt, dass diese Metallmischung sich in einem Magnetfeld ein wenig ausdehnt oder zusammenzieht. Zwar wird dieser Effekt auch bei herkömmlichen Metallen wie Eisen oder Kobalt beobachtet, doch genügen schon sehr schwache Magnetfelder, um die Größe der metallischen Gläser zu verändern. Da für die Sicherheitsetiketten nur dünne Streifen benötigt werden, ist auch die Herstellung der Gläser für diese Anwendung unkompliziert.

Wesentlich teurer wird es, wenn massive Stücke aus metallischem Glas zum Einsatz kommen. So ist es nicht verwunderlich, dass das Material trotz seiner einzigartigen Eigenschaften bislang nur in Nischenanwendungen Verwendung findet. Insbesondere in der Medizin sind die Eigenschaften der metallenen Gläser von großem Nutzen. Geringer Verschleiß, Korrosionsbeständigkeit und gute biologische Verträglichkeit prädestinieren die ungeordneten Metalle für Implantate. Sogar an biologisch abbaubaren Schrauben wird geforscht. Diese würden nach einer Operation im Laufe der Zeit einfach vom Körper aufgelöst und damit weitere Eingriffe erübrigen.

Die Einsatzgebiete der modernen Materialien sind vielfältig: Vom Ski über Handygehäuse und Transformatoren bis zur medizinischen Prothese – die metallischen Gläser halten Einzug in eine Vielzahl von technischen Anwendungen. In unserem Alltag wird Glas zukünftig also deutlich mehr sein als ein Trinkgefäß.

Radiotracer-Methode

Mit der Radiotracer-Methode wird bestimmt, wie beweglich ein Stoff bei einer bestimmten Temperatur in einem anderen Material vorhanden ist. Die Mobilität von Atomen ist wichtig für viele physikalische Vorgänge, zum Beispiel bei der Bildung von metallischem Glas.

Die Grafik zeigt, was beim Aufprall einer Kugel auf ein kristallines Metall beziehungsweise auf ein metallisches Glas passiert. Links: beim kristallinen Metall sind die Atome gleichartig und deshalb regelmäßig angeordnet, in der Grafik beispielhaft in einer hexagonalen, wabenförmigen Struktur. Dadurch lassen sich bei einem Aufprall ganze Gruppen von Atomen längs einer Gleitebene verschieben. Im Fall des hexagonalen Kristalls läuft die Gleitebene in etwa in Richtung des Aufpralls. Dessen Energie wird also zum Teil absorbiert. Daher hüpft eine Kugel nach dem Aufprall nicht so hoch wie sie gefallen war.

Metallische Gläser sind wesentlich härter als kristallines Metall.

Um die Beweglichkeit der Atome in einem Material zu messen, wird eine dünne Lage eines radioaktiven Stoffes - dem sogenannten Tracer - auf ein Stück des zu untersuchenden Materials aufgebracht. Anschließend wird die Probe für eine genau festgelegte Zeit mit einer bestimmten Temperatur geheizt. Während der Heizphase kann der Tracer in das Material eindringen. Nachdem die Probe wieder abgekühlt ist, wird sie Schicht für Schicht untersucht. Für jede Schicht wird die Menge des Tracers gemessen und so bestimmt, wie viele radioaktive Teilchen wie tief in die Probe eingedrungen sind. Durch diese Tracerverteilung kann schließlich die Beweglichkeit der Atome im Probenmaterial bei der verwendeten Temperatur errechnet werden.

Zur Untersuchung metallischer Gläser ist die Radiotracer-Technik allerdings eine experimentelle Herausforderung: Heiztemperaturen von typischerweise 500 Grad Celsius müssen innerhalb sehr kurzer Zeit erreicht und genau eingehalten werden. Damit die Probe während des Heizens nicht mit Luft oder dem umgebenden Gefäß reagiert, muss das Experiment zudem in einer speziellen Gasumgebung und in besonderen Tiegeln durchgeführt werden. Und um die Probe nach dem Experiment zu untersuchen, muss sie in Schichten von nur wenigen Milliardstel Metern Dicke zerteilt werden, sodass höchste experimentelle Präzision vonnöten ist.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/metalle/metallische-glaeser/