Das freie Neutron: eine universelle Sonde

Radiographie

Neutronen sind eine außergewöhnliche Sonde, mit der kondensierte Materie untersucht werden kann. Sie dringen tief in Materie ein, erlauben zerstörungsfreie Untersuchungen, haben günstige Wellenlängen und Energien, sie eröffnen viele Untersuchungsmöglichkeiten im Bereich Magnetismus und sie können verschiedene Isotope eines Elements sichtbar machen.

>Neutronenradiographie einer Ariane-Sprengkapsel: Schwarz-Weiß-"Aufnahme" (Neutronenradiographie) des Innenlebens einer Sprengkapsel, daneben ist diesselbe Sprengkapsel schematisch dargestellt. Man sieht eine sehr gute Wiedergabe dess Innenlebens durch die neutronenradiographische Aufnahme.

Neutronenradiographie und schematische Darstellung einer Ariane-Sprengkapsel

Neutronen als Bausteine der Atomkerne machen etwa die halbe Masse unserer bekannten materiellen Welt aus. Sie sind der „Klebstoff“, der die positiv geladenen Protonen im Kern zusammenhält, die sonst durch elektrostatische Abstoßung explosionsartig auseinander fliegen würden. Für die Forschung sind Neutronen besonders nützlich als freie, nicht im Kern gebundene, Elementarteilchen. Effiziente Prozesse zur Freisetzung von Neutronen aus Kernmaterie sind Kernspaltung und Spallation. Bei der in den Forschungsreaktoren ablaufenden Kettenreaktion wird pro Spaltung eines 235U Kerns etwa ein für die Forschung verwendbares Neutron freigesetzt. Die Spallation ist ein wesentlich effizienterer Prozess, bei dem Kernmaterie mit hoch energetischen Protonen beschossen und dadurch in einen angeregten Zustand aufgeheizt wird. Je nach Targetmaterial (Uran, Blei, Quecksilber,.) und Protonenenergie (typisch etwa 1 GeV) dampfen dabei 20 bis über 30 Neutronen pro Kern ab.

Labor auf Femtometerskala

Als freie Teilchen sind Neutronen aufgrund der schwachen Wechselwirkung gegen den β-Zerfall nicht stabil und zerfallen in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino. Die Halbwertszeit von ca. 890 Sekunden lässt genügend Zeit für Untersuchungen an freien Neutronen. Gemäß der Standardtheorie der Elementarteilchenphysik bestehen Neutronen aus drei Quarks – ein „up“- und zwei „down“-Quarks, die durch Gluonen zusammengehalten werden. Sie stellen ein hochempfindliches Labor auf der Femtometerskala dar, welches Präzisionstests der Standardtheorie erlaubt. Die experimentell bestimmten Werte für Ladung, magnetisches Monopolmoment und elektrisches Dipolmoment des Neutrons sind alle mit α verträglich, und sie wurden mit der unglaublichen Genauigkeit von 10-21 e, 10-20 e/20 bzw. 10-25 e cm gemessen (e = Elementarladung, α = Feinstrukturkonstante).

Außergewöhnliche Sonde

Diagramm mit zwei X- und zwei Y-Achsen: X1= Streuvektor, X2= Länge, Y1 = Frequenz, Y2 = Energie. Eingezeichnet sind die Bereiche, in denen verschiedene Methoden arbeiten: optische Raman-Spektroskopie, otische Brillouin-Spektroskopie, optische Photonenkorrelationsspektroskopie (PCS), zeitaufgelöste Röntgen- und Neutronenstreuung, Röntgen-Photonen-Korrelationsspektroskopie (XPCS) und Neutronen- und Röntgenstreuung.

Günstige Wellenlängen und Energien

Freie Neutronen sind noch in einem ganz anderen Sinn ein „Geschenk der Natur“, nämlich als Sonde mit ganz außergewöhnlichen Eigenschaften für Untersuchungen kondensierter Materie. Sie ermöglichen uns einen tiefen Einblick ins Innere kondensierter Materie und machen in der Neutronenstreuung Strukturen von Pikometern bis Mikrometern und Bewegungen auf Zeitskalen von Pikosekunden bis Mikrosekunden der Untersuchung zugänglich. Mit abbildenden und kinematischen Verfahren werden noch größere Strukturen und langsamere Bewegungen sichtbar. Als solche ausgezeichnete Sonden sind Neutronen unerlässlich für so unterschiedliche Gebiete wie Physik, Chemie, Kristallographie, Materialwissenschaften, Biologie, Geowissenschaften, Ingenieurwissenschaften bis hin zu Archäologie und Kunstgeschichte.

Hohe Eindringtiefe

Als elektrisch neutrale Teilchen dringen Neutronen tief in Materie ein – viele Zentimeter in den typischen technischen Strukturmaterialien. Zum Vergleich: die Eindringtiefe von Röntgenstrahlung in Übergangsmetallen beträgt nur wenige Mikrometer bei 10 keV Photonenenergie und wenige Millimeter bei 100 keV! Mit Neutronen können Eigenspannungen tief im Innern von mechanisch belasteten Teilen bestimmt werden.

Zerstörungsfrei

Magnetische Struktur von Er<SUB>6</SUB>Mn<SUB>23</SUB>: Schematische Darstellung eines Atomgitters, in dem Atome als Kugeln und die Spins als Pfeile dargesellt sind.

Magnetische Struktur von Er₆Mn₂₃

Neutralität hat noch andere wesentliche Vorteile: da die starke Coulomb-Wechselwirkung entfällt, erlauben Neutronen zerstörungsfreie Untersuchungen, auch von empfindlichen biologischen Proben. Und nicht zuletzt können aufgrund der hohen Eindringtiefe komplexe Probenumgebungen eingesetzt werden, was Untersuchungen bei extremen Drücken, Temperaturen und Feldern ermöglicht.

Günstige Wellenlängen und Energien

Die moderne Festkörperforschung führt makroskopische Eigenschaften kondensierter Materie zurück auf den atomaren Aufbau, d. h. auf Anordnung und Bewegung der atomaren Bausteine. Zur experimentellen Bestimmung dieser Größen ist ein passender raumzeitlich atomarer Maßstab nötig. Mit Wellenlängen im Bereich von Atomabständen und Energien, die den typischen Anregungsenergien in kondensierter Materie entsprechen, erfüllen Neutronen in idealer Weise diese Funktion als „Spion in der Nanowelt“. Neutronenstreuung deckt den relevanten Parameterbereich im Raum- Zeit-Diagramm ab. Sie erlaubt Strukturbestimmung von 10-4 Å bis 10Å, Neutronentomographie eröffnet den Zugang zur makroskopischen Welt von Mikrometern bis Metern. Dynamik kondensierter Materie wird zugänglich im Zeitfenster von 100 Femtosekunden bis 100 Mikrosekunden, was so unterschiedliche Prozesse abdeckt wie Diffusion, Magnonen, Phononen, Tunnelprozesse, bis hin zu Reptation von großen Polymerketten. Schließlich erlauben kinetische Messungen, an die makroskopischen Zeiten von Millisekunden bis Stunden anzuschließen.

Magnetisches Dipolmoment

Schema Kontrastvariation: Durch den Ersatz von H durch D können&nbsp;funktionelle Einheiten&nbsp;gegenüber dem Lösungsmittel hervorgehoben oder unterdrückt werden. Im ersten Bild ist ein gefüllter gelber Kreis auf grünem Grund zu sehen, im zweiten ein gefüllter gelber Kreis mit blauem Zentrum auf blauem Grund und im dritten nur das blaue Zentrum auf gelbem Grund.

Kontrastvariation macht funktionelle Einheiten sichtbar

Das Neutron hat noch eine weitere wichtige Eigenschaft, die es für den Forscher so wertvoll macht: das Kernmoment und sein magnetisches Dipolmoment. Damit werden sowohl der Magnetismus der Atomkerne als auch die magnetische Struktur, die magnetischen Anregungen und Fluktuationen der Elektronen im Festkörper, zugänglich, mit wichtigen Anwendungen in korrelierten Elektronensystemen oder im Nanomagnetismus. Bei der präzisen magnetischen Strukturaufklärung mit polarisierten Neutronen und der kompletten Bestimmung magnetischer Anregungen haben Neutronen unter allen Methoden ein Alleinstellungsmerkmal. Kein Wunder also, dass die beiden Nobelpreise an C. G. Shull und B. N. Brockhouse im Jahre 1994 gerade für diesen Themenkreis vergeben wurden!

Kontrastvariation

Bei der Bestimmung von Lage und Bewegung von Atomen ist der Streuquerschnitt aufgrund der Wechselwirkung des Neutrons mit den Atomkernen entscheidend. Dieser variiert relativ unsystematisch innerhalb des Periodensystems der Elemente – ganz im Gegensatz zum Streuquerschnitt von Röntgenstrahlen, der stetig mit der Anzahl der Elektronen eines Atoms ansteigt. Mit Neutronen können daher auch im Periodensystem benachbarte Atome klar unterschieden werden, und leichte Atome bleiben sichtbar neben den schweren. Verschiedene Isotope ein und desselben Elements können gänzlich verschiedene Streuquerschnitte aufweisen. Forscher, die biologische Proben und weiche Materie untersuchen, machen sich diese Eigenschaften zunutze, indem sie in einzelnen funktionellen Gruppen oder Molekülen Wasserstoff durch Deuterium ersetzen und diese damit quasi „anfärben“. Diese Kontrastvariation erlaubt die Bestimmung von Position und Bewegung einzelner Moleküle oder Gruppen in einem komplexen mehrkomponentigen System.

Neutronen und Wasserstoff

Wasserstoff ist das leichteste Element mit nur einem Elektron. In kondensierter Materie ist er ein wichtiger Strukturbaustein, der entweder kovalent gebunden oder in H2O-Molekülen enthalten ist. Bei der Strukturanalyse sehen Röntgenstrahlen die Elektronendichteverteilung der Atome oder Ionen. Das eine Wasserstoffelektron hat dabei nur einen geringen Beitrag – vor allem im Vergleich zu Schweratomen mit hoher Ordnungszahl – und ist zusätzlich wegen der kovalenten Bindung gegenüber der Protonenposition delokalisiert.

Für die Neutronenbeugung ist der Wasserstoff – genauer gesagt das Proton (1H) und für das schwere Wasserstoffisotop das Deuteron (2H) – gut zu erkennen und zu lokalisieren. Wegen der unterschiedlichen Vorzeichen der Streulängen (b(1H) = –3.74 fm und b(2H) = +6.67 fm) ergibt sich darüber hinaus die Möglichkeit einer Kontrastvariation zwischen protonierten und deuterierten Strukturkomponenten.

Detaillierte Informationen über die H,D-Verteilung in Wasserstoffbrückenbindungen oder im Zusammenhang mit Molekülfehlordnungen sind eine Domäne der Neutronenstreuung. Entsprechende Fragestellungen sind auch für die Strukturforschung von biologischen Makromolekülen von großer Bedeutung.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/analyse-von-materialien/neutronen-als-sonde/das-freie-neutron/