Seismologie und Geodynamik – die Inspektion der Erde

Ulrich Hansen

Querschnitt durch Erde

Das Innere unseres Planeten birgt noch viele Geheimnisse, entzieht es sich doch direkten Messungen. Die tiefsten Bohrungen reichen bis zu einer Tiefe von gut 10 Kilometer und ritzen somit nur die äußerste Hülle der Erdkugel an, die einen Radius von 6370 Kilometer hat. Die meisten Informationen über das Innere der Erde liefert die Seismologie.

Diese Teildisziplin der Geophysik beschäftigt sich mit den Ausbreitungseigenschaften seismischer Wellen, die von Erdbeben ausgehen. Seismische Wellen sind Druck- oder Scherwellen, die sich im Gestein fortpflanzen. Aus den Ausbreitungsgeschwindigkeiten dieser Wellen lassen sich weitreichende Schlüsse über das Material ziehen, das die Wellen durchdrungen haben.

Die Schalen der Erde

Infografik in zwei Teilen. Aufbau des Erdinnern und Ausbreitungseigenschaften von seismischen Wellen.

Erdaufbau und seismische Wellen

Bereits in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hat die Seismologie ein Schalenmodell der Erde entworfen (Abb. 1). Das Modell entstand aus seismologischen Beobachtungen, vor allem anhand von Messungen der Laufzeiten seismischer Wellen sowie ihrer Reflexion und Beugung. Grob umrissen ist der Erdkörper aus mehreren Schalen aufgebaut: Unter einer etwa 100 km dicken Lithosphäre erstreckt sich bis in eine Tiefe von 2900 km der Erdmantel, der aus Silikatgestein besteht. Der Mantel wird unterteilt in den oberen Erdmantel (100–400 km), die Übergangszone (400–660 km) und den unteren Erdmantel (660–2900 km). An den Mantel schließt sich der äußere Erdkern an. Anders als der Erdmantel besteht er aus flüssigem Metall, nach heutigem Wissensstand aus einer Eisenlegierung. Im Zentrum der Erde, in einer Tiefe zwischen 5150 und 6370 km, liegt der wiederum feste innere Erdkern.

In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiesen geophysikalische Großexperimente, darunter Bohrungen in den Meeresgrund, darauf hin, dass sich die Erde ständig großräumig verändert. Aufgrund zunächst indirekter Hinweise kam man zu dem Schluss, dass die Lithosphäre in Platten zersplittert ist, die sich relativ zueinander verschieben. Heute können die Bewegungen direkt aus Satellitenmessungen bestimmt werden. So weiß man, dass sich die Platten mit Geschwindigkeiten von einigen Zentimetern pro Jahr bewegen. An den Grenzen der Platten entstehen Spannungen, die sich in Erdbeben lösen können. Die großen Erdbebengürtel der Erde sind praktisch identisch mit den Plattengrenzen (Abb. 2). Langfristige Veränderungen des Erdinnern werden heute im Fachgebiet der Geodynamik untersucht.

Weltkarte mit Kontinenten. Schwarze Linien markieren Grenzen der Kontinentalplatten. Schwarze Punkte kennzeichnen Vulkane, fast alle sind an Plattengrenzen. Um die Pazifische Platte herum befindet sich eine Linienkette, die "Feuerring" genannt wird. Viele Vulkane auf dem Feuerring.

Der Feuerring umkränzt den Pazifischen Ozean.

Bereits 1910 vermutete der deutsche Meteorologe Alfred Wegener, dass die Kontinente einst zu einem großen Superkontinent gehörten und dann auseinandergedriftet sind. Seine Theorie fand damals keinen Zuspruch, vor allem weil man sich nicht vorstellen konnte, was die Kontinentaldrift antreiben sollte. Die Entdeckung der Plattentektonik wird häufig als späte Bestätigung der Wegenerschen Theorie angesehen. Tatsächlich aber unterscheiden sich Wegeners Vorstellung und die heute gängige Theorie erheblich. Nach aktueller Auffassung sind es nicht die Kontinente, die driften. Vielmehr sind es die Lithosphärenplatten, also auch die Ozeanböden, die ständig am Wandern sind.

Was treibt die Platten an?

Ein entscheidender Schritt zur Erklärung des Antriebsmechanismus war die Erkenntnis, dass der Erdmantel in kurzen Zeiträumen wie ein fester Körper reagiert, über lange Zeitspannen (100 Millionen Jahre und mehr) aber wie eine zähe Flüssigkeit. Als einfaches Beispiel kann eine Wachskerze dienen: Belastet man die Kerze plötzlich, so schwingt sie oder zerbricht womöglich. Sie reagiert also wie ein Festkörper. Legt man die Kerze über eine Tischkante, so wird sie sich infolge der Schwerkraft ganz langsam verbiegen – sie verhält sich wie eine Flüssigkeit.

Die Betrachtung des Erdmantels als eine Flüssigkeitsschicht, in der dynamische Prozesse ablaufen, führte weg von einem statischen, hin zu einem dynamischen Bild der Erde. Hier sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Mantel nicht, wie oft berichtet, aus glühendem geschmolzenem Material besteht. Er ist im herkömmlichen Sinne fest: Seismische Scherwellen können ihn durchdringen, und das ist ein untrügliches Merkmal eines Festkörpers. Doch auf den extrem langen Zeitskalen der Geodynamik verhält sich der Erdmantel in der Tat wie eine Flüssigkeitsschicht, und zwar wie eine solche, die sowohl von innen als auch von unten beheizt wird. Von innen, weil der Zerfall von radioaktivem Material im Erdmantel (Thorium, Uran und Kalium) Wärme entstehen lässt. Von unten, weil außerdem bis heute Wärme im heißen Erdkern gespeichert ist und diese Wärme allmählich vom Erdkern in den Mantel gelangt.

Die Erde als Wärmekraftmaschine

Aus der Physik weiß man: Wird eine Flüssigkeit hinreichend von unten beheizt, setzen Konvektionsströmungen ein. Eine warme Flüssigkeit ist leicht und steigt auf, eine kühle Flüssigkeit ist schwer und sinkt ab. So kommt ein Zirkulationssystem in Gang. Konvektionsströme spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung atmosphärischer und ozeanischer Zirkulationssysteme. Auch die Dynamik des Erdinnern wird von ihnen geprägt.

Wie bei einer Wärmekraftmaschine wird die Wärme von Erdmantel und Erdkern in Bewegung umgesetzt. An ozeanischen Rücken steigt warmes Mantelmaterial empor und bildet dort neue Erdkruste. Dieses Material driftet dann von den ozeanischen Rücken weg, erkaltet und wird immer schwerer. Irgendwann ist das Material so schwer, dass es an sogenannten Subduktionszonen in den Erdmantel absinkt und den Kreislauf schließt.

Die anfangs entwickelte Vorstellung von Konvektionszellen im Erdmantel gilt heute als zu einfach. Schließlich besitzt nicht jede Platte an einer Seite einen ozeanischen Rücken und an der anderen eine Subduktionszone. Außerdem gibt es auf der Erde viele Abweichungen von dem oben entworfenen Bild der Konvektion. Die Kontinente tauchen zum Beispiel nicht wieder in den Erdmantel ein. Denn während der Entwicklung der Erde hat sich, chemisch bedingt, leichtes Material in ihnen angereichert. Daher können sie – selbst wenn sie abgekühlt sind – nicht in den Erdmantel abtauchen.

Wegen der extremen Langsamkeit und räumlichen Ausdehnung der Mantelkonvektion eignen sich Laborexperimente kaum zur Untersuchung des Phänomens. Das wichtigste Instrument der Geodynamik ist heute der Computer. In der Animation (1) ist die Entwicklung einer Strömung dargestellt, wie man sie unter vereinfachten Mantelverhältnissen erwartet.

Eine wichtige Abweichung der Mantelkonvektion von gewöhnlicher Konvektion besteht auch darin, dass die Zähigkeit des Erdmantels von Druck und Temperatur abhängt. Aufsteigendes heißes Mantelmaterial wird immer zäher (viskoser) und bildet schließlich eine Platte, die nahezu undeformiert driftet. Allerdings schafft die Temperaturabhängigkeit der Viskosität noch keine Plattentektonik. Gerade die Zähigkeit würde in diesem Modell die Subduktion verhindern: Die Platte bildet einen Deckel, der, ähnlich dem Deckel auf einer Kaffeetasse, dazu führt, dass sich der Kaffee (oder eben der Mantel) nicht abkühlt. Die Animation (2) zeigt einen solchen Fall. Unter dem kalten (hier blau dargestellten) Deckel ist es heiß. Im Mantel finden heftige Konvektionsbewegungen statt, aber die Platten bewegen sich nicht. Vermutlich ist der Mars ein solcher „Einplattenplanet“ – aber nicht die Erde.

Um die Subduktion auf der Erde zu erklären, müssen weitere Fließeigenschaften des Mantelgesteins in Betracht gezogen werden. Das ist inzwischen auch gelungen. In der Animation (3) wird ein Computermodell gezeigt, das zusätzlich die Existenz einer Grenzspannung nachstellt, oberhalb derer das Material sein Verhalten plötzlich ändert. Erkaltet das Material, wächst die Spannung, bis das Material schließlich nachgibt und die Subduktion einsetzt. Die Animation (4) demonstriert besonders klar, wie durch Mantelkonvektion die Plattentektonik an der Oberfläche entsteht.

Die Modelle zeigen deutlich, wie die Erde als Wärmekraftmaschine funktioniert: Die Mantelkonvektion wandelt die Wärme in Bewegung um (Konvektionsströme) und daraus resultiert die Plattentektonik. Man kann aber nicht sagen, dass Platten von der Mantelkonvektion getrieben werden oder sie sogar antreiben – vielmehr bilden Mantelkonvektion und Plattenbewegung aus heutiger Sicht der Geodynamik ein Gesamtsystem. Als thermische Grenzschichten sind die Platten ein integraler Bestandteil der Mantelkonvektion.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/erdinneres/geodynamik/