Genaue Vermessung des Standardmodells der Teilchenphysik

Michael Büker

Eine große unterirdische Halle voller Stahlträger und wissenschaftlicher Instrumenten.

LHCb ist der Name eines der vier großen Experimente am Teilchenbeschleuniger LHC. Während Wissenschaftler mit Detektoren wie CMS und ATLAS direkt nach neuen Teilchen suchen, verfolgen sie mit LHCb eine indirekte Strategie, um das Standardmodell der Teilchenphysik auf die Probe zu stellen.

Das Standardmodell der Teilchenphysik ist die bis heute umfassendste Theorie, die das Zusammenwirken der kleinsten Bausteine der Materie erklärt. Von der inneren Struktur der Atomkerne über den elektrischen Strom bis hin zu den Fusionsreaktionen in der Sonne trifft es viele zuverlässige Vorhersagen. Zahlreiche Experimente haben diese Vorhersagen seit der Entwicklung des Standardmodells vor einigen Jahrzehnten mit großer Genauigkeit bestätigen können.

Doch die Theorie hat auch Unzulänglichkeiten. Sie kann manche Phänomene nicht oder nicht vollständig erklären. Dazu gehört etwa die außergewöhnlich kleine, aber definitiv vorhandene Masse von elektrisch neutralen Elementarteilchen namens Neutrinos. Zum anderen verwundert Forscher die Tatsache, dass im Universum sehr viel mehr Materie als Antimaterie zu beobachten ist – und das obwohl im Standardmodell diese beiden Erscheinungsformen von Teilchen fast vollkommen gleichberechtigt sind.

Diese und andere offene Fragen sind der Anlass für eine genaue Überprüfung des Standardmodells. In Experimenten an Teilchenbeschleunigern wird beispielsweise nach Spuren von Teilchen gesucht, die im Standardmodell nicht vorkommen. Eine solche Verletzung der Theorie könnte gewissermaßen die Tür für neue, vollständigere Beschreibungen der Physik öffnen. Am LHCb-Experiment wird dabei eine indirekte Strategie verfolgt.

Mathematischen Vorhersagen auf den Grund gehen

Durch eine transparente Darstellung eines Teilchendetektors ziehen sich verschiedenfarbige Linien aus einem Punkt am linken Bildrand dicht beieinander nach rechts.

Teilchenkollision im LHCb-Detektor

Ulrich Uwer von der Universität Heidelberg ist Koordinator des Forschungsprojekts „LHCb – Quark-Flavor-Physik am LHC“ und erklärt die Herangehensweise so: „Anstatt reale Teilchen zu erzeugen und diese dann zu vermessen, untersuchen wir die Vorhersagen des Standardmodells mit bestimmten Präzisionsmessungen. Wir beobachten gezielt Prozesse, die nur aufgrund sogenannter Quantenkorrekturen auftreten können und deren Einfluss sich genau vorausberechnen lässt. Wir vergleichen dann diese Berechnungen mit unseren Messungen und wollen so herausfinden, ob das Standardmodell tatsächlich die Natur genau beschreibt.“

Die sogenannten Quantenkorrekturen sind eine mathematische Eigenschaft des Standardmodells. Sie schlagen sich in beobachtbaren Effekten nieder, wobei die Größe der Effekte von den Eigenschaften existierender Teilchen abhängen kann. Würde also ein neues zusätzliches Teilchen existieren – so die Idee hinter dem Experiment –, dann würde sich eine Diskrepanz zwischen den vorausberechneten Quantenkorrekturen und den im Experiment beobachtbaren Messgrößen zeigen.

In der Praxis ist dies ein sehr kompliziertes Unterfangen. Eine Diskrepanz zwischen berechneten Vorhersagen und tatsächlichen Messwerten könnte – neben der Entdeckung eines neuen Teilchens – nämlich auch auf ein unvollständiges Verständnis der Theorie oder schlicht auf Messfehler zurückzuführen sein. Deshalb müssen sowohl das Verhalten des Detektors als auch die mathematischen Vorhersagen möglichst vollständig und genau bekannt sein, ehe das Experiment eine belastbare Aussage über das Standardmodell zulässt.

Männer und Frauen stehen in einem großen Raum, in dem unzählige Laptops, Computermonitore auf Tischen und an den Wänden aufgebaut sind. Sie betrachten die Anzeigen und unterhalten sich.

Der Kontrollraum des LHCb-Experiments

Der LHCb-Detektor

Seinem Namen entsprechend untersucht der LHCb-Detektor vor allem aus mehreren Elementarteilchen zusammengesetzte Partikel, die ein sogenanntes Bottom-Quark – oft als „b“ abgekürzt – enthalten. Dazu zählen etwa die B-Mesonen: Sie bestehen aus zwei Quarks, von denen eines ein Bottom-Quark oder dessen Antiteilchen ist. B-Mesonen sind sehr kurzlebig und zerfallen in verschiedene andere Teilchen, wobei die genaue Vermessung dieser Zerfälle viele Aufschlüsse über die zugrunde liegende Physik zulässt.

Das Einsatzgebiet von LHCb ist aber inzwischen noch vielseitiger geworden: „Ursprünglich sollte das LHCb-Experiment diese Präzisionsmessungen vor allem an seltenen Zerfällen von B-Mesonen durchführen, doch es war von Anfang an klar, dass es auch für andere Arten von Untersuchungen am Standardmodell geeignet ist“, sagt Ulrich Uwer. Bei der Konstruktion von LHCb flossen viele Erfahrungen ein, die man mit dem Experiment HERA-b gesammelt hatte, das von 2000 bis 2006 am HERA-Beschleuniger in Hamburg lief.

Vom Aufbau her ist LHCb ein sogenannter Vorwärtsdetektor. Das heißt, dass er nicht wie etwa CMS oder ATLAS symmetrisch um den Punkt der Protonenkollisionen im LHC-Beschleuniger aufgebaut ist, sondern vor allem Teilchen vermisst, die nach der Kollision in der Nähe des Strahlrohrs in eine bestimmte Richtung weiterfliegen. So lassen sich mit LHCb Kollisionsprodukte untersuchen, die mit anderen Detektoren kaum erfasst werden können.

Aktuell arbeiten Uwer und seine Kollegen an einer Weiterentwicklung der sogenannten Spurkammer von LHCb. In dieser verfolgen Wissenschaftler den Flugweg von Teilchen durch ein Volumen von mehreren Kubikmetern, um aus der Form der Flugbahn deren Eigenschaften zu rekonstruieren. Bislang arbeitet der LHCb-Spurdetektor mit fünf Millimeter dicken Röhrchen, die mit Gas gefüllt sind. In Zukunft sollen diese durch lichtleitende Fasern ersetzt werden, die nur einen Viertelmillimeter dick sind und so eine wesentlich höhere Auflösung bei der Verfolgung der Teilchenflugbahn zulassen.

Ein Mann und eine Frau sitzen vor mehreren Computermonitoren und diskutieren dort angezeigte Daten.

Rekonstruktion von Daten des LHCb-Experiments

Verletzung des Standardmodells lässt auf sich warten

Bereits mehreren Experimenten am LHC ist es gelungen, Teilchen nachzuweisen, die vorher mit keinem anderen Teilchenbeschleuniger gefunden wurden. Neben dem Higgs-Boson wurde am LHCb-Experiment jüngst ein aus fünf Quarks zusammengesetztes Teilchen namens Pentaquark nachgewiesen, dessen Existenz lange vermutet worden war.

Doch keines dieser Resultate steht im Widerspruch zum Standardmodell der Teilchenphysik. Forscher warten nach wie vor auf eine Entdeckung, die der Startschuss für das sein könnte, was sie „Physik jenseits des Standardmodells“ nennen. „Bislang stimmen die Ergebnisse im Rahmen der Fehler mit dem Standardmodell überein“, so Ulrich Uwer. Über manche besonders seltenen Teilchenreaktionen wird LHCb aber erst in Zukunft, mit mehr Messzeit und größerer Genauigkeit, eine verlässliche Aussage treffen können.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/physik-der-kleinsten-teilchen/genaue-vermessung-des-standardmodells-der-teilchenphysik/