Klauten die Europäer im 16. Jahrhundert mathematisches Wissen bei den Indern?

Möglicherweise gab es schon im 14. Jahrhundert in Indien Gelehrte, die das mathematische Verhalten von unendlichen Reihen ergründet hatten. Und möglicherweise drangen diese Erkenntnisse auch bis zu Leibniz und Newton.

Manchester (Großbritannien) - Zu den für Mathematiker reizvollsten Problemen gehört das der unendlichen Reihe, wie es etwa in Zenons berühmtem Paradox von Achill und der Schildkröte vorkommt. Natürlich sagt einem das Alltagswissen, dass Achill die Schildkröte nicht nur einholt, sondern sogar überholt. Aber "irgendwie" war an der Behauptung des griechischen Mathematikers Zenon doch etwas dran, dass Achill die Schildkröte, der er bei einem Wettlauf großzügig 100 Fuß Vorsprung gewährt hatte, niemals wirklich einholen könne. Es hat über tausend Jahre gedauert, bis man mathematisch den Denkfehler des Zenon gefunden hatte. Dazu brauchte es nämlich etwas Wissen über den Charakter von unendlichen Reihen. Den Ruhm für diese Erkenntnisse teilen sich – so sieht es die Geschichte der Mathematik – Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton.

Doch seit ein britischer Forscher Texte einer wissenschaftlichen Schule aus dem Indien des 14. Jahrhunderts für sein Buch "The Crest of the Peacock: the Non-European Roots of Mathematics" genauer untersucht hat, steht die These vom Wissensklau im Raum.

Bei der Durchsicht alter indischer Texte entdeckte George Gheverghese Joseph von der University of Manchester, dass die so genannte Kerala-Schule im Südwesten Indiens bereits um 1350 von unendlichen Reihen wusste. Dass deren Erkenntnisse sich nicht sogleich weiter verbreiteten, hat zum großen Teil an der Sprache gelegen, in der die Gelehrten der Kerala-Schule ihre Erkenntnisse niederschrieben, dem Malayalam, das damals außerhalb dieser Region kaum jemand verstand. Doch dann kamen im 16. Jahrhundert Jesuiten nach Indien. Und sie waren sehr interessiert an dem Wissen in diesem Teil der Welt und lernten auch die verschiedenen Sprachen der Regionen, in denen sie sich aufhielten. Ganz konkret lässt sich belegen, dass es eine Gruppe von Jesuiten gab, die Papst Gregor XIII (1572-1585) mit Informationen darüber versorgen sollte, welche Kalendersysteme die Menschen in anderen Gegenden der Welt hatten. Denn Gregor XIII. plante eine Modernisierung des Julianischen Kalenders – die ihm übrigens auch geglückt ist, seitdem rechnen wir nach dem Gregorianischen Kalender. Außer den Kalenderfragen beschäftigten die Europäer auch Probleme der Schiffsnavigation und sie suchten dringend, ihre Kenntnisse hierin zu vervollständigen. Die Schule von Kerala könnte für all das einiges geboten haben, was die Jesuiten mit nach Europa brachten. Ob es die Jesuiten selbst waren oder die europäischen Mathematiker – jedenfalls vergaß man, die Quelle des Wissens anzugeben.

George Gherverghese Joseph hat jedoch gar nicht vor, Newton oder Leibniz vom Sockel zu stoßen. "Die Brillanz von Newtons Werk am Ende des 17. Jahrhunderts bleibt unvermindert - besonders wenn es um den Algorithmus des Kalküls geht. Doch Namen von der Kerala-Schule, vor allem jene von Madhava und Nilakantha, sollten Seite an Seite mit ihm stehen als die Entdecker der anderen großen Komponente des Kalküls - der unendlichen Reihen."

 

Quelle: https://www.weltderphysik.de/nachrichten/2007/klauten-die-europaeer-im-16-jahrhundert-mathematisches-wissen-bei-den-indern/