Der Higgs-Mechanismus – von einer Idee zum Nobelpreis

Maike Pollmann

Helle und dunkle Streifen auf schwarzem Untergrund.

Vor gut fünfzig Jahren sagten Robert Brout, François Englert und Peter Higgs ein völlig neues Prinzip – den Higgs-Mechanismus – vorher. 2013 gab es dafür den Nobelpreis für Physik. Peter Mättig von der Universität Wuppertal erklärte in unserem Podcast, wie der Higgs-Mechanismus funktioniert, warum das Standardmodell ohne Higgs-Teilchen nicht auskommt und was die Teilchenphysiker nach der erfolgreichen Suche antreibt.

Robert Brout, François Englert und Peter Higgs schlugen bereits 1964 einen Mechanismus vor, der die Masse der Elementarteilchen erklärt. Im Juni 2012 wurde ihre Idee durch den Fund einen neuen Teilchens am LHC untermauert und das Standardmodell der Teilchenphysik vervollständigt. In diesem Modell wird die gesamte im Universum sichtbare Materie auf nur zwölf Elementarteilchen zurückgeführt. Diese bilden die erste Säule des Modells.

Peter Mättig

Peter Mättig: „Die andere Säule bilden drei Kräfte, nämlich die elektromagnetische Kraft, die starke Kraft und die schwache Kraft. Und diese Kräfte werden in unserem Bild wieder durch Teilchen übertragen. Wir haben also sowohl Teilchen in der Materie als auch Teilchen in den Kräften. Die Unterscheidung davon ist, dass die Materieteilchen einen Eigendrehimpuls von ½ haben, während die Kraftträger einen Eigendrehimpuls von eins aufweisen.“

Im Lauf der vergangenen Jahrzehnte konnten Physiker alle Materieteilchen des Standardmodells sowie ihre Wechselwirkungen in Teilchenbeschleunigern präzise vermessen. Doch ein wichtiger Baustein – oder die dritte Säule des Modells – blieb lange Zeit unentdeckt: Das Higgs-Teilchen. Und damit blieb letztlich auch unklar, wie die Teilchen des Standardmodells eigentlich zu ihrer Masse kommen.

„Schon Galileo, Newton und Einstein haben sich mit Masse beschäftigt. Und auch in den 1950er-Jahren – als das Standardmodell noch gar nicht wirklich entwickelt wurde – stellte man sich die Frage, warum Protonen und Neutronen eine Masse besitzen und wie diese in die Theorie eingeht. An diesen Punkten haben sehr viele Leute gearbeitet. Dabei kam auch die Überlegung auf, Konzepte, die in der Festkörperphysik – insbesondere in der Supraleitung – verwendet wurden, auf die Teilchenphysik anzuwenden.“

Alles, was wir sehen – Menschen, Tiere, Pflanzen, Erde und Planeten – besteht aus Materieteilchen. Insgesamt gibt es zwölf Materieteilchen, die in sechs Quarks und sechs Leptonen unterteilt werden. Beide Gruppen bestehen aus Teilchen dreier Familien.

Elementarteilchen und Grundkräfte

Die Masse von zusammengesetzten Teilchen, wie Protonen oder Neutronen, konnten Physiker letztlich auf die starke Wechselwirkung zwischen ihren Bausteinen – den Quarks – zurückführen. Durch die dynamischen Prozesse im Inneren wird gemäß Einsteins berühmter Formel Energie in Masse umgewandelt. Wollte man die Masse der fundamentalen Teilchen erklären, schienen die bekannten Mechanismen aber zu versagen.

„Die Elementarteilchen haben selbst keine innere Struktur. Und das bedeutet, dass auch dieser Mechanismus E = mc2 da nicht funktionieren kann. Denn innerhalb dieser elementaren Teilchen findet keine Wechselwirkung mehr zwischen verschiedenen Partnern statt. Hier muss also ein völlig neues Prinzip entwickelt werden.“

Der rätselhafte Ursprung der Teilchenmassen war allerdings nicht das einzige Problem. Denn versuchte man, die Masse der Elementarteilchen in die ersten beiden Säulen des Standardmodells zu integrieren, kam es zu gravierenden inneren Widersprüchen in der Theorie: Es traten beispielsweise Wahrscheinlichkeiten auf, die über hundert Prozent lagen.

„Und das ist etwas, was unmöglich ist. Diese Probleme gab es schon öfter und sie wurden immer dadurch gelöst, dass man neue Teilchen einführte. Und in diesem Fall musste man nicht nur ein neues Teilchen einführen, sondern ein neues Prinzip – nämlich das Higgs-Teilchen oder das Higgs-Feld, den Higgs-Mechanismus.“

Unabhängig voneinander entwickelten François Englert und Robert Brout, der inzwischen verstarb, sowie Peter Higgs den Higgs-Mechanismus. 1964 veröffentlichten sie ihre Arbeiten in einem Band der Fachzeitschrift "Physical Review Letters", wobei sie jeweils unterschiedliche Aspekte beleuchteten. Gemein ist ihnen eine bizarre Idee: Elementarteilchen besitzen die Eigenschaft Masse eigentlich gar nicht.

Ein älterer Herr steht vor einer Schultafel voller Formeln.

François Englert

„Masse hat ja etwas mit Trägheit zu tun: Ein massebehaftetes Teilchen kann zum Beispiel keine Lichtgeschwindigkeit annehmen, sondern sich nur mit verminderter Geschwindigkeit fortbewegen. Wenn man also einen Mechanismus findet, der erzwingt, dass sich ein Teilchen mit kleinerer Geschwindigkeit fortbewegt, dann hat man so etwas wie eine Analogie zu einer massegebenden Situation.“

Higgs und Co definierten die Eigenschaft Masse also einfach um: Dafür postulierten sie ein Feld, das den gesamten Raum ausfüllt. Alle massebehafteten Elementarteilchen treten nun mit diesem Feld in Wechselwirkung und werden dadurch gewissermaßen abgebremst. Je stärker die Kopplung an das Feld, desto größer die scheinbare Masse. Die Berechnungen der Forscher ergaben auch, dass ein solchen Higgs-Feld zwingend mit der Existenz eines neuen Elementarteilchens, nämlich des Higgs-Bosons, verbunden sein muss.

„Diese Idee stieß nicht gleich auf wahnsinnige Begeisterung. Die Reaktion war vielleicht ein gewisses Interesse. Aber es war nicht so, dass man dachte: Jetzt ist alles gelöst und wir können die Welt total erklären. Ein wichtiger Schritt war der Beweis, dass diese Theorie mit dem Higgs-Teilchen und den anderen Prinzipien des Standardmodells renormierbar ist. Das heißt, dass sie in sich selbst konsistent ist und man diese Theorie letztlich bis zu Energien berechnen kann, die im Unendlichen liegen.“

Dass das Standardmodell mit dem Higgs-Mechanismus zu einer mathematisch konsistenten Theorie wird – sich also alle Berechnungen im Prinzip mit beliebiger Genauigkeit durchführen lassen, ohne dass es zu inneren Widersprüchen kommt – konnte erst Anfang der 1970er-Jahre bewiesen werden. Das gab der Theorie einen gewissen Vertrauensvorschuss. Zudem machte das Standardmodell genaue Vorhersagen über die Eigenschaften des Higgs-Teilchens – abgesehen von seiner Masse.

„Aber die Tatsache, dass wir wissen, wie es produziert wird und wie es zerfällt, das heißt, welche experimentellen Signaturen wir in einem Detektor erwarten, ermöglicht uns, eine Strategie zu entwickeln, wie sich das Higgs finden lässt. Eine wesentliche Eigenschaft des Higgs ist, dass es selber mit der Masse koppelt: Je schwerer die Teilchen also sind, die wir produzieren, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir ein Higgs-Teilchen produzieren können.“

Älterer Herr mit Stift in der Hand vor einem Legomodell, das auf einem Tisch steht.

Peter Higgs

Erstmals ließen sich die nötigen Energien mit dem LEP-Beschleuniger, dem Vorgänger des LHC, am CERN erreichen, der 1989 in Betrieb ging. Zwar gelang dort kein direkter Nachweis, doch durch den Abgleich der über zehn Jahre laufenden Messungen mit der Theorie konnten Forscher die Masse des Higgs-Teilchens zwischen 114 und 180 Gigaelektronenvolt geteilt durch c2 einschränken. Auch am Teilchenbeschleuniger Tevatron am Fermilab in den USA ließen sich die Grenzen weiter einschränken, doch fündig wurde man auch dort nicht.

„Lange Zeit war dieser Higgs-Mechanismus der einzige Mechanismus der Massengebung. Und nachdem die ersten experimentellen Suchen nach dem Higgs gescheitert waren, gab es dann – eigentlich erst vor Kurzem, vor fünf, sechs Jahren – viele neue Theorien. Und John Ellis, einer der bekannten Theoretiker, hat das einmal auf den Satz gebracht: ‚Theorists get cold feet‘ mit der Higgs-Hypothese. Also irgendwie schwante den Theoretikern, irgendwie müssen wir uns was anderes überlegen. Und da gab es tatsächlich viele Ansätze, einen alternativen Mechanismus oder einen modifizierten Higgs-Mechanismus zu entwickeln.“

Zweifeln ließ die Wissenschaftler aber nicht nur die bislang erfolglose Suche. Viele verunsicherte der unübliche Wert Null für den Eigendrehimpuls des Higgs-Teilchens. Denn bisher setzen sich alle bekannten Teilchen ohne Eigendrehimpuls aus verschiedenen Teilchen zusammen, sind also keine Elementarteilchen. Zudem löst der Higgs-Mechanismus einzig und allein das Problem mit der Masse – einige sehen ihn daher eher als eine Art Hilfskonstruktion an, um das Standardmodell an dieser Stelle zu reparieren.

„Ein weiterer Nachteil des Higgs-Mechanismus: Er hat keine vorhersagende Wirkung, das heißt, wir finden mit dem Higgs-Mechanismus eine Art und Weise, wie den Materieteilchen – den Quarks und den Leptonen – Massen gegeben werden kann, aber wir wissen nicht, warum diese Leptonen diese bestimmte Masse besitzen. Und die Massen sind sehr, sehr unterschiedlich – vom Top-Quark, das ungefähr 180-mal so schwer ist wie ein Proton, bis zum Elektron, das ein 2000-stel einer Protonenmasse wiegt, bis hin zu den Neutrinos, die eine noch geringere Masse haben. Nichts davon wird durch den Higgs-Mechanismus erklärt.“

Für jedes Elementarteilchen gibt es ein Schildchen, auf dem dessen Masse sowie Nachweisjahr notiert sind. Angeordnet sind die Schildchen in einem Diagramm, in dem Masse und Nachweisjahr gegeneinander aufgetragen sind.

Massenspektrum der Elementarteilchen

Erst am LHC ließ sich der gesamte Massebereich abdecken, in dem man das Higgs-Teilchen noch vermutete: In dem Beschleuniger werden Protonenstrahlen mit bisher unerreichten Energien aufeinandergeschossen. Am Kollisionspunkt stoßen genau genommen die Bestandteile der Protonen – also Up- sowie Down-Quarks und Gluonen, die Kraftteilchen der starken Kraft – zusammen und setzten auf kleinstem Raum ihre Energie frei. Durch die Äquivalenz von Masse und Energie können auf diese Weise auch sehr massereiche Teilchen-Antiteilchenpaare, etwa das Top-Quark und dessen Antiteilchen entstehen, und bei deren gegenseitigen Auslöschung schließlich auch das Higgs-Boson.

„Wir haben Billionen von Ereignissen am LHC aufgenommen und wir haben vielleicht 200 000 Higgs-Teilchen produziert. Aber diese 200 000 produzierten Teilchen bedeuten noch nicht, dass wir diese 200 000 Teilchen auch wirklich sehen können. Tatsächlich sind diese Higgs-Teilchen verdeckt unter vielen, vielen anderen Prozessen, die fast so aussehen wie das Higgs-Teilchen, aber die sehr viel dominanter erzeugt werden.“

Deshalb konzentrieren sich die Forscher nur auf die klarsten Signaturen, also nur auf bestimmte Zerfallsprodukte des Higgs-Teilchen, denn das Teilchen selbst existiert weniger als eine Trilliardstel Sekunde – viel zu kurz, um das Teilchen direkt im Detektor zu sehen. Am 4. Juli 2012 war es dann so weit: Am LHC verkündete man den Fund eines neuen Teilchens. Und die gemessenen Eigenschaften passen genau ins vorgezeichnete Bild: Produktionsweise, Zerfall, Eigendrehimpuls und sogar die Masse fallen so aus, wie für das Higgs-Teilhen erwartet.

„All dies muss allerdings mit einer Einschränkung gesagt werden, die eigentlich für alle physikalischen Aussagen gilt: Das gilt natürlich nur innerhalb der Messgenauigkeit. Und diese Messgenauigkeit ist im Augenblick, sagen wir, in der Größenordnung von zehn Prozent. Das heißt, es bleibt noch so etwas wie zehn Prozent übrig, dass dieses Higgs-Teilchen nicht ganz mit dem übereinstimmt, was Herr Higgs vor fünfzig Jahren vorhergesagt hat. Also wir können sagen, dass es zu 90 Prozent übereinstimmt, aber es kann durchaus sein, dass noch etwas anderes dazukommt. Ich glaube, alle akzeptieren mittlerweile, dass dieses Teilchen irgendwie Masse gibt – also dass es ein Higgs-Teilchen ist –, aber ob es das Higgs-Teilchen ist, das ist noch unklar und das muss auch weiter erforscht werden.“

Tunnel des LHC

Tunnel des LHC

Denn laut Theorien jenseits des Standardmodells könnte es nicht nur ein einziges, sondern gleich fünf Higgs-Teilchen geben. Zudem ist bisher unklar, ob derselbe Mechanismus für beide Säulen – also Materieteilchen und Kräfteteilchen – gilt oder ob ein zusätzlicher Mechanismus eingeführt werden muss. Und auch, ob das Higgs-Teilchen – das ja immerhin so massereich wie ein Cäsiumatom ist – an sich selbst koppelt, also sich selbst Masse verleiht, ist noch nicht zweifelsfrei geklärt. Um diese und andere Fragen beantworten zu können, möchte man die Eigenschaften des Higgs-Teilchens viel genauer vermessen. So planen die Forscher am LHC noch einmal ein Vielfaches der bisher gesammelten Daten zu produzieren – und zwar mit verbesserten Detektoren und verfeinerten Analysemethoden. Aber auch über neue Beschleuniger denken Teilchenphysiker bereits nach.

„Ideal wäre natürlich, einen sehr reinen Prozess zu haben. Und der würde zum Beispiel durch einen International Linear Collider möglich werden, in dem zwei Elektronstrahlen oder ein Elektron- und ein Positronstrahl aufeinandergeschossen werden, die dann keine weiteren Teilchen produzieren außer zum Beispiel dass Z0-Teilchen, was dann an das Higgs-Teilchen koppelt. Und damit hätten wir eine sehr klare Signatur für das Higgs-Teilchen und könnten viele Untersuchungen durchführen und sehr präzise zum Beispiel die Masse vermessen.“

Ein solcher Linearbeschleuniger wird derzeit für Japan geplant. Antworten auf die vielen Fragen rund um das Higgs dürften noch Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte auf sich warten lassen. Genug Zeit, um auch das Standardmodell noch einmal zu überdenken, denn trotz der Erfolge gibt es auch hier noch offene Punkte.

„Die eine Sache ist, dass das Standardmodell immerhin 27 freie Parameter hat – Parameter, die gemessen werden müssen und hineingesteckt werden müssen in dieses Standardmodell, um dann die Rechnungen durchzuführen, die nicht aus der Theorie selbst folgen. Und es ist nicht nur die Anzahl dieser freien Parameter, die uns stört: Diese Parameter weisen eine offensichtliche Struktur auf und diese Struktur können wir nicht erklären. Also zum Beispiel die Massen oder wir haben auch verschiedene Stärken der Wechselwirkungen. Die Wechselwirkungen beruhen auf den gleichen Prinzipien, aber die Stärken sind abhängig von der Energie und treffen sich irgendwann einmal. Sie werden also gleich stark. Es riecht danach, dass wir eigentlich nur eine Kraft haben, die sich dann aufspaltet in drei Kräfte.“

Viele Galaxien vor schwarzem Hintergrund. In der Mitte befindet sich ein hantelfömiger, rosa Klumpen, an dessen beiden Seiten ein blauer Klumpen angrenzt.

Indirekter Nachweis von Dunkler Materie

Vielleicht gibt es also eine ökonomischere Theorie mit weniger Strukturen und weniger Parametern. Zudem bricht das Standardmodell zusammen, sobald die Gravitation – die nicht Teil des Modells ist – einsetzt. Dadurch müssen interne Korrekturen in der Theorie vorgenommen werden. Das Standardmodell bleibt dadurch zwar konsistent, ist aber weit entfernt von einer einfachen, ästhetischen Theorie.

„Der andere Punkt ist, dass es auch außerhalb unserer beschleunigerorientierten Physik Hinweise darauf gibt, dass es neue Phänomene gibt – sprich die Dunkle Materie. Es scheint so, dass unser ganzes Universum zum großen Teil aus dunklem Stoff besteht: einerseits aus Dunkler Materie, anderseits aus Dunkler Energie. Und das, worum es im Standardmodell geht, macht eigentlich nur fünf Prozent des gesamten Energiehaushalts des Universums aus. Das ist natürlich auch etwas, was wir nicht haben wollen. Wir suchen also nach einer Erklärung, wie diese hundert Prozent wirklich aussehen und wie sie zusammenhängen, mit dem was wir wissen. Das heißt, wir gehen davon aus, dass das Standardmodell erweitert werden muss und eingebaut werden muss in eine größere Theorie.“

Auch wenn es zweifelsohne noch jede Menge zu tun gibt – die Vorhersage und schließlich der Fund des Higgs-Teilchens stellen einen Meilenstein in der Teilchenphysik dar. So sah es auch das Nobelpreiskomitee, das in seiner Begründung zur Preisvergabe an Higgs und Englert auch ausdrücklich den Einsatz der vielen Tausend Experimentatoren am CERN würdigte.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/higgs/higgs-mechanismus/