Antimaterie im Universum

Walter Oelert

Entwicklung des Universums

CERN

Im Urknall sollten Materie und Antimaterie zu gleichen Teilen entstanden sein. Doch wo ist die Antimaterie geblieben? Gibt es im Universum womöglich ganze Galaxien aus Antimaterie?

Das gegenwärtige Verständnis der Physik beinhaltet die Existenz der Antimaterie. Dabei sind bei Erhaltung der CPT-Invarianz – also unter der Voraussetzung, dass sich Antimaterie und Materie exakt gleich verhalten – alle Eigenschaften der Antimaterie aus denen der Materie vorhersagbar. Materie und Antimaterie vernichten sich gegenseitig zu Energie oder werden simultan aus Energie erzeugt. Wenn aber diese Symmetrie in der Erzeugung und Vernichtung von Materie und Antimaterie gilt, dann sollte sie doch wohl auch zum Zeitpunkt der Entstehung des Universums, zum Zeitpunkt des Urknalls, gegolten haben. Oder haben sich die Gesetze der Physik auf dem Weg bis heute geändert und es galten zu Beginn allen Werdens andere Gesetze als heute? Wo ist die Antimaterie geblieben, die im Urknall entstanden sein muss?

Wir wissen, dass Antimaterie in natürlicher Form nicht auf der Erde vorhanden ist. Kosmologen sagen uns, dass Antimaterie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht innerhalb eines Radius von dreißig Millionen Lichtjahren um uns herum existiert. Darüber hinaus bleibt die Spekulation, dass weit entfernte Galaxien aus Antimaterie bestehen könnten.

Grundlegend sind solche Überlegungen gar nicht so neu, denn schon Aristoteles führte in seinem Werk Über den Himmel – Vom Werden und Vergehen aus: „Die Pythagoräer behaupten, gegenüber von dieser Erde sei noch eine zweite, die sogenannte unsichtbare ‘Gegenerde‘, unsichtbar, weil diametral entgegengesetzt der Erde, jenseits des Feuers, aber sonst bis in das Kleinste gleich.“

Das Alpha-Magnetische Spektrometer

Fotomontage eines Modells der Raumstation ISS mit verschiedenen angedockten Modulen im All oberhalb der Erde

Das Alpha-Magnetische Spektrometer an der Raumstation ISS

Im Urknall entstandene Antimaterie könnte bis heute irgendwo übrig geblieben sein. Dies zu untersuchen, ist Ziel des Alpha-Magnetischen Spektrometers (AMS).

Mit diesem Nachweisgerät sollte es möglich sein, Kerne von Antiatomen aus Antigalaxien, sofern vorhanden, ausfindig zu machen. Insbesondere Kerne wie Antisauerstoff oder Antikohlenstoff würden die Existenz von Gestirnen aus Antimaterie beweisen, denn derart schwere Kerne können nur durch Prozesse der Kernfusion innerhalb von Gebilden aus Antimaterie geformt worden sein.

Der Einsatz des AMS-Experiments auf der ISS verzögerte sich zunächst aufgrund von Schwierigkeiten bei der NASA. Nun aber ging es für das Experiment einen entscheidenden Schritt voran: Am 26. August 2010 brach es zu seiner vorletzten Etappe auf der Reise zur internationalen Raumstation auf, indem es vom Forschungszentrum CERN in Genf aus zum Kennedy-Raumfahrtzentrum in Florida geflogen wurde. Zuvor musste es tiefgreifende Testserien überstehen, die auch zu entscheidenden technischen Veränderungen führten. Einmal auf der ISS angekommen, gibt es keine Möglichkeit eines erheblichen mechanischen Eingriffes mehr; denn das AMS-Experiment wird buchstäblich mit der letzten Fähre des Space Shuttles Ende Februar 2011 in den Weltraum befördert. 

Mögliche Erklärungen

Drei Menschen arbeiten an einer hochkomplexen, über vier Meter hohen technischen Apparatur.

Test des AMS bei CERN

Im Jahre 1967 formulierte Andrei Sakharov drei zentrale Bedingungen, die die Grundlage für alle weiteren Versuche bildeten, den in unserem Universum beobachteten Überschuss von Materie und Mangel an Antimaterie zu erklären:

  • Es müssen Prozesse vorhanden sein, die die Zahl der aus Quarks zusammengesetzten Materieteilchen (der sogenannten Baryonen) verändert.
  • Die uns bekannten Naturgesetze müssen derart gestaltet sein, dass ein Materieüberschuss gegenüber Antimaterie entsteht, das heißt es muss eine Verletzung der C- und CP-Symmetrie vorliegen.
  • Prozesse, die die Erhaltung der Baryonen-Zahl verletzen, müssen im thermischen Ungleichgewicht stattfinden oder stattgefunden haben, da im thermischen Gleichgewicht die Sekundärprodukte eines zerfallenden Teilchens mit gleicher Häufigkeit auch wieder in ihr Ursprungsteilchen rekombinieren würden.

Wie mittlerweile zweifelsfrei bewiesen ist, existiert eine CP-Verletzung. Diese mag für die Bildung des Materieüberschusses in frühen Zeiten der Entwicklung des Universums mitverantwortlich gewesen sein, auch wenn der Teil ihrer Stärke, der heute bekannt ist, nicht ausreichend erscheint, um den gesamten Effekt zu erklären. Eine Alternative zu den drei Sakharov-Bedingungen, die – auch im thermischen Gleichgewicht – zu hoher Baryon-Asymmetrie führen könnte, ist eine Baryonenzahl-Verletzung bei Brechung der CPT-Invarianz.

Die Aufgabe der Wissenschaftler besteht nun darin, ergänzende Prozesse oder neue Quellen der CP-Verletzung auszumachen, und/oder festzustellen, ob alle Wechselwirkungen zwischen den Teilchen wirklich invariant gegenüber der CPT-Operation sind. Hierfür wurden etliche Messungen an verschiedenen Teilchensystemen gemacht, und an vielen Experimentiereinrichtungen werden derzeit Versuche geplant und durchgeführt.

Hier treffen sich die Ziele von AMS, LHC und dem AD-Teilchenbeschleuniger bei CERN (siehe Artikel Experimente mit Antiwasserstoff). Wenn die Wege und Methoden auch ganz unterschiedlich sind: Die Suche nach exotischen Teilchen im Weltraum mit AMS, die Beobachtung von exotischen neuen Teilchen in Zusammenstößen höchst-energetischer Teilchen am LHC und die Messungen an exotischen Antiatomen am AD mit höchster Präzision bei niedrigsten Energien – das entscheidende wissenschaftliche Ziel dieser komplementären Experimente ist die Frage nach jenen fundamentalen Kräften, die unsere Welt beherrschen.

In diesem Zusammenhang ist besonders bemerkenswert, dass das Management des CERN nicht nur den LHC so erfolgreich bauen und in Betrieb nehmen ließ, nicht nur das AMS-Experiment tatkräftig in seiner Fertigstellung unterstützte, sondern dazu gegenwärtig noch Planungen vorantreibt, den AD-Beschleuniger durch einen zusätzlichen, weiteren Abbremsring – genannt ELENA (Extra Low ENergy Antiprotons) – in seiner Effizienz um zwei Größenordnungen zu steigern.

Neue Einblicke in die Gesetze des Universums?

Grafische Darstellung der Entwicklung des Universums: Unten rechts ist der Urknall als große Explosion angedeutet, in der sich die elementarsten Bausteine der Materie bildeten. Nach oben hin folgt die Entstehung der heute bekannten Elementarteilchen und der Atome bis hin zu den Galaxien und unserem Sonnensystem. Eine Skala auf der rechten Seite der Grafik deutet den Zeitverlauf an.

Die Entwicklung des Universums

In jedem Falle müssen wir die Frage nach der Ursache des Überschusses von Materie über die Antimaterie an die Natur stellen. Eine Antwort werden wir auch bekommen – sie wird um so präziser sein, je genauer wir die Frage formulieren, und sie wird uns in unserem Verständnis tiefer in die Geheimnisse der Natur vorstoßen lassen.

Die Situation heute scheint ähnlich derjenigen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als – nach dem Aufstellen der Maxwell-Gleichungen zum Elektromagnetismus – ein einheitliches Bild der Physik und der Phänomene der Natur fast vorzuliegen schien, und nur ein paar kleine Effekte noch nicht ganz erklärbar waren. So wie damals ein genaueres Hinsehen zu grundlegend neuen Beschreibungen und Erkenntnissen führte, eine wirkliche Renaissance der Physik einleitete, so wartet eine eindeutige Antwort auf die Frage der Asymmetrie der Materie gegenüber der Antimaterie heute noch darauf, gegeben zu werden – eine Antwort, die uns womöglich grundlegend neue Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten des Universums gewähren wird. Denn das Weltbild der Physik, wie es im Standardmodell der Teilchenphysik zusammengefasst wird, kann eine CP-Verletzung zwar beschreiben, aber nicht quantitativ erklären.

Fragen der mikroskopischen Skala dienen dazu, den Makrokosmos zu erklären; die Phänomene des Mikrokosmos und des Makrokosmos ergänzen sich gegenseitig. Auf die Frage, ob wir überhaupt eine signifikante Erklärung unserer Existenz erwarten können, sei zum einen auf die erheblichen Erfolge verwiesen, die die Physik schon erreicht hat, zum anderen möge zum Schluss Stephen Hawking zitiert sein:

„Die Menschheit wollte schon immer jenseits des Horizonts blicken ... Auf jeder Seite von uns besitzt das Universum Strukturen auf Skalen, die bis zu etwa Tausend Milliarden Milliarden Milliarden Mal größer oder kleiner sind als wir. Weil diese Spanne nicht ganz unendlich ist, besteht die Hoffnung, dass wir eines Tages die Struktur des Universums vollständig verstehen werden. Die Suche nach dem fast Unendlichen.“

(„The human race has always wanted to look beyond the horizon ... On either side of us, the Universe has structure on scales up to about a thousand billion billion billion times bigger or smaller than our own. Because this range is not quite infinite, there is hope that we may one day completely understand the structure of the Universe.“)

 

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/antimaterie/antimaterie-im-universum/