„Ein Kollaps in zwei Stufen“

Patrick Müller

Löst man Gelatine in Wasser, saugt sie sich voll und es entsteht eine gallertartige Masse: Wackelpudding. Gelatine ist ein natürliches Hydrogel. Denn sie kann zu einem Großteil aus Wasser bestehen, ist aber selbst nicht wasserlöslich. Ein Team um Walter Richtering von der RWTH Aachen hat das Aufquellen von Hydrogelen untersucht – allerdings nicht an Wackelpudding, sondern an einem künstlich hergestellten Gel, das nur wenige Mikrometer misst. Ihre Ergebnisse präsentierten die Forscher nun im Fachjournal „Science Advances”. Im Interview mit Welt der Physik erklärt Walter Richtering, welches Potenzial solche Mikrogele in der Chemie, Biologie und Technik haben.

Porträt von Walter Richtering

Walter Richtering

Welt der Physik: Was sind Hydrogele?

Walter Richtering: Hydrogele setzen sich aus großen Molekülen zusammen, die miteinander vernetzt sind und sehr viel Wasser aufnehmen können. Mehr als neunzig Prozent eines Hydrogels können im ausgedehnten Zustand aus Wasser bestehen. Dabei dehnt sich das Molekülnetzwerk aus, man spricht von Aufquellen. Ein Paradebespiel für ein natürlich vorkommendes Hydrogel ist die Qualle: Im Wasser quillt sie auf, löst sich aber nicht auf, und an Land fällt sie in sich zusammen.

Wie lassen sich Hydrogele künstlich herstellen?

Wir erzeugen unsere Hydrogele, indem wir lange Molekülketten bauen und diese miteinander vernetzen. Diesen Prozess kann man so steuern, dass die räumliche Dimension – also die Größe des gesamten Netzwerks – auf beispielsweise einen Mikrometer oder weniger begrenzt ist. Bei diesen kleinen Hydrogelen, sogenannten Mikrogelen, beeinflusst dann jeder Baustein die Eigenschaften des gesamten Gels. Über den molekularen Aufbau können wir also bestimmen, unter welchen Umständen sich das Gel ausdehnt und wieder zusammenzieht.

Was haben Sie in Ihren Experimenten untersucht und was kam dabei heraus?

Wir wussten vorher bereits, wie sich ein Mikrogel im vollständig gequollenen und im zusammengefallenen Zustand verhält. Jetzt wollten wir herausfinden, wie und mit welcher Geschwindigkeit der Übergang zwischen diesen beiden Zuständen abläuft. Um die Struktur von Mikrogelen aufzulösen, reicht die klassische Mikroskopie allerdings nicht aus. Deswegen haben wir uns den Prozess mit einem Röntgenstreuexperiment angeschaut. Dadurch konnten wir sowohl die Größe als auch den inneren Aufbau bestimmen. Weil es uns aber auch um die Dynamik ging, mussten wir zudem schnelle Prozesse aufnehmen können. Möglich war das mit den schnellen Detektoren und intensiven Röntgenstrahlen an der European Synchrotron Radiation Facility in Grenoble. Die Geschwindigkeit des Prozesses haben auch andere Wissenschaftler schon untersucht. Aber uns ist es nun erstmals gelungen, die Struktur von Mikrogelen und deren Größe während des Quellens direkt zu messen.

Und wie verhält sich das Mikrogel zwischen aufgequollenem und kompaktem Zustand?

Wir haben festgestellt, dass das Kollabieren der Mikrogele in zwei Stufen abläuft. Der erste Prozess ist sehr lokal – und extrem schnell. Man kann sich das folgendermaßen vorstellen: Kleine Bereiche schnüren sich zusammen und bilden an der Peripherie kleine Knubbel. Auf diese Weise entsteht eine dichte Schale, die einen wasserreichen Kern umgibt. Im zweiten Schritt kollabiert das gesamte Netzwerk und es bildet sich ein homogenes kompaktes Teilchen.

Wie lassen sich diese Erkenntnisse nutzen?

Mit diesem neuen Wissen wollen wir ein komplexeres Mikrogel aufbauen, beispielsweise mit einer Kern-Schale-Struktur. Wir wollen dann versuchen, den Kollaps auf bestimmte Bereiche zu beschränken. Damit könnten wir die Eigenschaften des Gels stark beeinflussen.

Welche Anwendungen könnten daraus folgen?

Die Mikrogele könnten etwa als Transportkapsel dienen: Sie schützen den Inhalt und können durch Ausdehnen auf den Inhalt reagieren. Dazu nehmen wir Enzyme oder chemische Katalysatoren und betten diese in Mikrogele ein. Ein anderes Projekt beschäftigt sich mit bestimmten Krankheiten, die Giftstoffe im Darm freisetzen. Unsere Kollegen entwickeln nun ein Mikrogel, das der Mensch schlucken kann und das dann diese Giftstoffe bindet. Anschließend würde das Gel wieder ausgeschieden werden. Das ist aber noch Zukunftsmusik.

Walter Richtering

Computersimulation des kollabierenden Mikrogels – links in der Außenansicht, rechts im Querschnitt

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/nachrichten/2018/ein-kollaps-in-zwei-stufen/